Sie zuckte erschrocken zusammen, als es plötzlich hell wurde. Das grelle Licht brandete über sie wie eine Flutwelle. Reflexartig kniff sie die Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen, sie begannen sofort zu tränen. Vorsichtig versuchte Sylke sie wieder zu öffnen. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Die Neonröhre an der Decke tauchte den Raum in ein gnadenlos hellweißes Licht.
Jemand hatte auf den Schalter gedrückt. Jemand außerhalb ihres Gefängnisses.
6
Ratlos stand Levke vor Sylkes Laden. Fehmarn und Meer prangte auf einem großen blauen Schild über der Tür, die Schaufensterscheiben reflektierten die Mittagssonne. Sylkes Geschäft befand sich im Zentrum von Burg, ein Stück hinter dem Rathaus am Kaufhaus Scholz vorbei die Straße hinunter, in der Nähe des Filmtheaters Fehmarn. Wie oft hatten sie früher, als Sylke noch nicht so beschäftigt war, in dem gemütlichen Kino spannende Filmabende verbracht. Levke liebte das urige Ambiente, denn jeder Platz im Saal war mit einem kleinen Tisch und einem Lämpchen ausgestattet.
Auf der Straße herrschte reges Treiben, vor allem Touristen flanierten gutgelaunt durch die Stadt. Doch in dem Laden, dessen Türglocke in der Hauptsaison fast unermüdlich klingelte, war niemand. Stirnrunzelnd drückte Levke die Klinke herunter, rüttelte daran, doch die Tür öffnete sich nicht.
»Sylke?«
Was, verdammt, war mit ihrer Freundin los? Sie hatte gestern lange auf Sylke und Emmi gewartet und war letztendlich verwundert von Katharinenhof nach Landkirchen gefahren, wo sie sich in einer kleinen, gemütlichen Einliegerwohnung ihr eigenes Reich geschaffen hatte. Mehrfach hatte sie versucht, Sylke auf dem Handy zu erreichen. »Es gibt bestimmt eine ganz plausible Erklärung«, hatte sie sich eingeredet, als sie schließlich nach Mitternacht todmüde ins Bett gefallen war. Sie musste am nächsten Tag wieder früh raus. Der Bäcker, bei dem sie in Burg arbeitete, öffnete wochentags um sieben, Sylkes Laden hingegen erst um zehn Uhr.
Den ganzen Vormittag hatte sie an Sylke gedacht und sich sofort in der Mittagspause auf den Weg zu dem Laden gemacht, der nur wenige Hundert Meter von der Bäckerei entfernt lag. In ihren Gedanken sah sie Sylke lachend in der Tür stehen. »Wir haben doch bloß die Zeit vergessen, das kennst du doch!« Sie hörte die Stimme ihrer Freundin so nah an ihrem Ohr, dass sie erschrak, als der Laden in ihr Blickfeld kam und dieser verlassen dalag.
Das war noch nie vorgekommen. Selbst als Sylke vor einem Jahr eine schwere Grippe bekommen hatte. Mit Fieber hatte sie hinter dem Tresen gestanden und ihre Mattheit weggelächelt. Im Weglächeln war sie gut.
Levke schaute auf ihre Uhr, sie hatte nur noch fünfundzwanzig Minuten. Ein letztes Mal klopfte sie energisch gegen die Scheibe, jedoch mehr aus Pflichtbewusstsein. Sylke war nicht da, sie ging nicht an ihr Handy. Und Emmi ...
Levke schlug sich gegen die Stirn. Natürlich, Emmi! Sie musste doch in der Schule sein. Da war Sylke streng, da kannte sie keine Gnade. Die Inselschule lag mitten in Burg, wenn sie schnell ging, konnte sie in weniger als fünf Minuten dort sein. Sie wollte gerade loslaufen, als sie innehielt. Mist, es waren doch Ferien! Das vergaß sie manchmal, da sie keine Kinder hatte.
Seufzend fuhr sich Levke über die Stirn. Sie hatte um vier Feierabend. Dann würde sie noch einmal zum Laden gehen. Bestimmt war das alles nur ein großes Missverständnis, sicher hatte Sylke irgendetwas gesagt, das ihr entgangen war.
Levke nickte energisch. So musste es sein. Sie ging mit festen Schritten, einem Lächeln auf dem Gesicht, tat alles, um sich selbst zu überzeugen. Um zu verhindern, dass sich die Angst in ihrem Inneren weiter ausbreitete wie ein Geschwür. Nein, verdammt noch mal, sie wollte nicht darüber nachdenken, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
7
Langsam gewöhnten sich Sylkes Augen an die Helligkeit. Sie schaute sich um, eilig, wer wusste schon, wann das Licht wieder ausging. Sie hatte gründliche Arbeit geleistet, das Bild in ihrem Kopf stimmte. Nur wurde es jetzt mit Farben gefüllt: Der Sessel war aus einem tiefen Bordeauxrot und sah ein wenig so aus, als könnte eine Oma gut in ihm vorlesen. Das Regal war groß und dunkel und mit allerhand Büchern und Spielen bestückt. Auf dem Bett lag eine bezogene Bettdecke. Die hatte sie gar nicht wahrgenommen.
Und in einem weiteren Punkt hatte sie Recht gehabt: Es gab kein Fenster. Die Decken waren niedrig. Die Tür bestand aus massivem, glänzendem Metall. Keine Klinke. Kein Entkommen.
Sylkes Müdigkeit war schlagartig verschwunden, stattdessen breitete sich die Angst erneut in ihr aus. Sie zwang sich, den Blick abermals durch den Raum wandern zu lassen. Gab es irgendwo eine Kamera? Beobachtete sie jemand? Doch so sehr sie sich anstrengte, sie konnte nichts entdecken.
Vorsichtig stand sie auf. Ihr Rücken schmerzte und knackte, als sie sich kurz streckte, ihre Beine fühlten sich wackelig an. Sie ging auf das Regal zu und betrachtete es eingehend. War dort irgendwo eine Kamera versteckt?
Ihre Finger fuhren über die vielen Bücher, zogen nacheinander einige heraus, schlugen sie auf. Warrior Cats, verschiedene Bände. War das nicht eine Reihe, die schon länger bei Jugendlichen beliebt war? Sie meinte, sich zu erinnern, dass Emmi einmal davon erzählt hatte.
Als ihre Augen über die Bücher eine Regalreihe darunter wanderten, begann ihre Hand zu zittern. Astrid Lindgren: Mio, mein Mio. Die Brüder Löwenherz. Ronja Räubertochter, das sie Emmi im vergangenen Winter vorgelesen hatte. In der Ferienzeit hatte sie noch nie Urlaub nehmen und den Laden schließen können, denn da war auf der Insel natürlich am meisten los; für eine Aushilfe war der Umsatz nicht groß genug. Der reichte zwar, aber nur, wenn sie allein dort schuftete. Doch in den kalten Monaten war immer weniger Trubel als im Frühjahr und Sommer. Da hatte sie mehr Zeit für Emmi, und die hatte sie angebettelt, ihr das Buch vorlesen. Eigentlich fand sie, dass Emmi schon zu groß dafür sei und Bücher selbst lesen konnte und sollte. Doch ihre Tochter hatte nicht lockergelassen, und so hatten sie an den langen Winterabenden zusammen auf dem Sofa gesessen und waren in Gedanken mit Ronja und Birk durch den Wald gezogen.
Mit einem Mal war dieser Geruch in ihrer Nase: Emilies Haar, direkt auf ihrer Schulter. Wenn sie sich nur ein klein wenig drehte, versank ihre Nase darin – in dem blonden Haar, das über sie floss wie ein sich wogendes Weizenfeld im Sonnenschein und genauso duftete. Nach frischem Brot. Nach Sommer. Nach Leben.
Sylke schluckte. Behutsam nahm sie das Buch in die Hand, streichelte darüber. Dann drückte sie es fest gegen ihre Brust. Konnte jemand, der Lindgren-Bücher besaß, böse sein? Das war schier unmöglich, oder?
Regungslos stand sie dort. Doch der Griff um das Buch wurde härter, so hart, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ihr Blick war auf das gegenüberliegende Bett gerichtet. Auf die Decke, die ihr zuerst nicht aufgefallen war. Rosa war die. Kleine grüne Feen mit Zauberstäben in den Händen flogen darauf umher.
Langsam drehte sie sich zurück zu dem Regal. Mehrere Bände von den Fünf Freunden und von TKKG standen dort ebenfalls. Sie sahen im Gegensatz zu den anderen Exemplaren alt und abgegriffen aus. Daneben ein Mikado-Spiel, ein weißer Block, Filzstifte.
Plötzlich war Sylke so schwindelig, dass sie sich auf den Teppich sinken ließ. Das Zimmer drehte sich. Sie atmete tief ein und aus, stützte sich auf dem Boden ab. Dieser Raum war ein Gefängnis, das nicht für sie errichtet worden war.
»Emilie!« Das Wort entfuhr ihr mit geballter Wucht, sie schrie es hinaus mit ihrer Angst. Wo zur Hölle war sie? Und warum war sie statt ihrer Tochter hier, in diesem verfluchten Kellerraum, der eindeutig nicht für sie bestimmt war?
Mit den Fingern trommelte sie gegen ihre Stirn, dann mit der Faust, immer heftiger. »Denk nach! Denk, verdammt noch mal, nach! Wer ist dieser Typ und wo könnte Emmi sein?«
Читать дальше