»Ich weiß«, seufzt der Baron.
Uexküll tritt auf die Rauchstraße hinaus. Eine lockere Schicht trockener Blätter bedeckt das Trottoir. Der Wind hat die letzten zuverlässig von den Ästen geholt, es raschelt um seine Füße. Vieles bleibt jetzt liegen. Die Sorgen der Hausbesitzer und ihrer Verwalter gelten dem kommenden Winter, der Versorgung mit Kohlen, dem Luftschutz. Blätter sind da sekundär.
Uex wird noch einmal Martha Liebermann aufsuchen und ihr vom Ergebnis der Unterredung berichten. Mit seinen Schuhen pflügt er eine Spur durch das Laub, das sich auftürmt wie die Bugwelle vor einem Schiff. So haben sie es als Kinder in Vana-Vigala gemacht. Wer die höchste Bugwelle zustande bekam, war Sieger, und wer langsam und stetig vorwärts schritt, hatte eindeutig die größeren Chancen als die, die kopflos in die Blätterhaufen hineinrannten. Kleines Kinderglück! Heute ist das nicht mehr so einfach. Die Verpflichtung, anderen zu helfen, und die Verantwortung, die er dafür trägt, Frau und Kind heil durch die Diktatur zu bringen, lasten auf ihm.
Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Glück, unsagbar schön. Er weiß, was meinem Herzen fehlt .
Seine Füße machen das Schlagzeug: krsch, schrrr, krsch, schrrr.
Für wen es schlägt und glüht, er weiß für wen .
Uex hat seine Frau bei einer Laienspielaufführung kennengelernt. Sie war der Star der Truppe. Schön, charmant, gertenschlank. An jenem Abend trug sie ein Kleid in Goldfarben. Das Oberteil, in Falten zur Körpermitte gerafft wie eine Korsage, ließ sie noch schlanker aussehen. Sie war fast nur ein Hauch und die eleganteste Frau, die er je gesehen hatte.
Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht, still ist die Nacht, die Liebe nur wacht
Charlotte heiratete keinen Liebermann, sondern einen Herrn Goldberger. Er war auch an jenem 16. Juni 1871 bei Liebermanns zu Gast gewesen, war der Bruder einer angeheirateten Cousine, kein sehr hübscher Mensch, klein und rundlich wie ein Kind, hatte er aber einen überaus wachen Verstand, beste Aussichten und versprach, als Bankier Großes zu leisten, was er dann auch tat. Er wurde Mitbegründer der Dresdner Bank und nationalliberaler Abgeordneter, doch das erlebte Charlotte nicht mehr.
Oft sprach er in der Französischen Straße vor. Der erste Schwiegersohn wurde mit besonderer Sorgfalt behandelt. Man wollte nichts verderben. Nun galt es ein Lebensglück zu machen.
Martha erinnerte sich an jene Wochen und Monate vor der Hochzeit wie an ein aufflackerndes Feuerwerk mit vielen kleinen, bunten Höhepunkten – das Aussuchen des Hochzeitskleides, die Zusammenstellung der Gästelisten, das Kennenlernen neuer Verwandten. Immer blieb ihr das Bild: Charlotte in Reisekleidern, in der kurzen Jacke mit dem kleinen Hermelinkragen. Ihre beinahe fremde Erscheinung als verheiratete Frau in der nagelneuen Garderobe. Noch einmal wandte sie sich an der Tür um, im Hintergrund Goldberger im dunklen Anzug. »Wir sind in Eile, Charlotte, der Zug wartet nicht.« Dann ging sie hinaus. Das letzte Bild, eine Falte der über dem Gesäß hoch aufspringenden Tournüre, die beinahe in der Tür eingeklemmt wurde, ein kurzer Augenblick des Verharrens, dann glitt das Stück Stoff durch den sich schließenden Spalt.
Als Charlotte aus den Flitterwochen in Italien zurückkam, ging es ihr schon schlecht. Sie fühlte sich matt, abgeschlagen. Fieberschübe folgten, Durchfall, Magenkrämpfe, Flecken auf der Brust. Martha und Margarethe ließ man nicht zu ihr, und sie blieben allein mit ihren Vermutungen und Ängsten. Es war wie beim Vater. Die Erwachsenen wandten sich ab. Wenn man sie fragte, schüttelten sie nur den Kopf: »So ein Unglück.« Martha schnappte »Fleckfieber« und »Typhus« auf. Und: »Von der Reise mitgebracht.«
»Keen Wasser trinken, wat nich abjekocht is«, wusste das Mädchen Sofie, »und keen Obst, nischt Rohet. Da isset drin, det wees man.«
Martha schlich sich in die Bibliothek des Vaters, wo sie in Meyers Konversationslexikon »Typhus« nachschlug.
Charlotte starb. Schlimmer noch als der Tod des Vaters hieb ihr Tod eine Kerbe ins Leben. Die Mutter wurde nie mehr ganz so wie zuvor. Man merkte es kaum, und es war doch danach alles ein bisschen gedämpfter bei ihr, leiser. Nun mochte sie auch nicht mehr in der Französischen Straße bleiben.
Das Tiergartenviertel wuchs gerade zum neuen Quartier der wohlhabenden Berliner heran. Martha zog mit ihrer Mutter und den Geschwistern in die Victoriastraße. Da war Else schon mit Georg Liebermann verlobt. Also hatte es doch etwas gebracht, die Einladung bei den Liebermanns wahrzunehmen. Gleich zwei Ehen gestiftet an einem Nachmittag. Die Hochzeitsvorbereitungen wurden nicht weniger aufwendig, aber sachlicher angegangen als bei Charlotte. Dass der Tod sie sich so mitten aus dem Glück gegriffen hatte, saß tief. Das war gerade mal ein Jahr her.
Im November heiratete also Else. Martha trug jungfräuliches Weiß, ein kurzes Kleid, es endete in einer Menge Rüschen oberhalb der Knöchel, hatte ein nicht allzu tiefes, viereckiges Dekolleté, Puffärmel, einzig eine fliederfarbene Schärpe gab ihrer Erscheinung ein bisschen Individualtät, ansonsten reihte sich Martha ein in eine Schar junger Mädchen, alle in ähnlich kindlichen Kleidern, die am Rande der Tanzfläche saßen, wie weiße Tauben auf einer Stange.
Aus dem schlaksigen Jungen Max war ein aufstrebender Künstler geworden, sein Anderssein trug er dezent, aber doch deutlich zur Schau, eine Spur Arroganz lag in der Lässigkeit, mit der er den konventionellen Ansprüchen genügte, die die Familie an ihn stellte.
Die Schönheit seiner Schwägerin fiel ihm auf. Er ließ sich dreimal auf ihrer Tanzkarte eintragen, aber noch hatte er keine Zeit, sich zu irgendetwas zu verpflichten. Verzicht auf sinnliches Glück, schrieb er später, festige den künstlerischen Charakter. Er hatte Angst, es möchte ihn etwas von seinem Weg abbringen. Mit Martha hüpfte er im Galopp übers Parkett.
»Und Sie gehen wirklich nach Paris?«
Gleich fort zu Schiff und übers Meer Bis nach Paris im Flug’ daher – Weil’s keine Stadt mehr geben kann, Wo man so herrlich leben kann! –
»Aber ja.«
»Werden Sie nicht Heimweh nach Berlin haben?«
»Wohl kaum.«
Das war gelogen. Er hatte auch in Weimar oft Heimweh gehabt. Das Leben hätte doch für ihn so einfach sein können. Er wollte es sich nicht einfach machen.
Martha war klug. Sie glaubte ihm nicht. Und er wusste, dass sie ihm nicht glaubte. Wahrscheinlich gefiel ihm das. Sie war ein bisschen pausbäckig zu dieser Zeit, Reste von Babyspeck auf den Hüften.
Dann spielte die Kapelle »An der schönen blauen Donau«.
Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht, still ist die Nacht, die Liebe nur wacht, der Schiffer flüstert der Liebsten ins Ohr, dass längst schon sein Herz sie erkor .
»Für die Spree sollte es so einen Walzer geben«, sagte Martha.
Max lachte. »Der Berliner ist kein Typ für den Dreivierteltakt. Bei uns herrscht der preußische Marsch vor.«
Sie drehten und drehten sich. Martha dachte, die Welt drehe sich um sie. Aber sie war ja noch ein Mädchen im kurzen Kleid.
Sie hätte auch einen anderen nehmen können. Hatte es ernsthaft andere Optionen gegeben? Jedenfalls vergingen zehn Jahre, in denen sie beide irgendwie übrigblieben, wie bei einer Stuhlpolonaise, plötzlich schwieg die Musik und nun den rechten Mann gesucht, hier ein Schokoladenfabrikant, der immer die Pralinenschachteln zum Kaffee mitbrachte und asthmatisch schnaufte, wenn er es die Treppe hinauf geschafft hatte, oder der hübsche Possenreißer, »der ist ein Goj, der kommt nicht infrage«. Einen Nichtjuden zu heiraten, zu dieser Zeit noch undenkbar, dann ging die Musik wieder los und wieder tanzte man im Kreis, das Kleid war länger geworden, der Cul de Paris höher, dann verschwand die Tournüre aus der Mode, um noch einmal aufzutauchen, gerade als Max heimkehrte.
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