Sophia Mott
Dem Paradies so fern
Martha Liebermann
Roman
Mit einem Nachwort
von Hans Gerhard Hannesen
Für meine Söhne Moritz und Felix und für Annette
Herbst 1941
18. Oktober 1941
Was vom Leben bleibt, sind Bilder und Geschichten
18. Oktober 1941
Ich bin doch nur ein Maler
20. Oktober 1941
Hundert Siege berichtet, keiner erdichtet
31. Oktober 1941
Das Schifflein fährt auf den Wellen so sacht, still ist die Nacht, die Liebe nur wacht
4. November 1941
Da muss ich eben auch noch lernen, wie man solche Bilder versteht
11. November 1941
Was, heiraten wollen Sie? Das ist nichts als Zeitverschwendung
14. November 1941
Dezember 1941
Wenn man nach Berlin reinkommt gleich links
11. Dezember 1941
Allet mit diesen zehn Fingern in zwee Jahren ermalt
15. Dezember 1941–Januar 1942
4. Januar 1942
März 1942
Jedenfalls sollte jeder seinen Kohl pflanzen
Hoffentlich sehen die Arbeiter bald ein, dat se nich zwanzig Mark am Tag verdienen können, ohne zu arbeiten
Da ham doch vor allem die Weiber nach ihrem Jefühl jewählt
Seien Sie versichert, der Sturm bricht bald los
Gesamtrahmen d. Pol. Unerfüllbar
13. März 1942
2. Mai 1942
Dat ick all det dann nich mehr sehen werde
15. Mai 1942
Jetzt wird allet anders
Mai 1942
Juli 1942
Das wird lange, lange dauern
August 1942
September 1942
Schəma jisroëil adaunoi elauhëinu adaunoi echod
Berliner Luft, Luft, Luft
4. Oktober 1942
Abschied vom Paradies
November 1942
Berlin, November 1942
Kopenhagen, November 1942
Entscheidungen
Stockholm, November 1942
Berlin, November 1942
Stockholm, November 1942
Berlin, Dezember 1942
Februar 1943
5. März 1943
Epilog Vom Füllen der Leerstellen
Nachwort
Literatur
Der Schlaf, wenn er kommt, ist voller Träume, die so wirklich erscheinen, als müssten sie das Leben sein. Das aber ist ein Albtraum. Martha lauscht auf das Pochen der Standuhr im Flur, tock-tock, tock-tock, der Schlag hinkt ein bisschen, und dennoch geht die Uhr ganz richtig, viel länger schon als Marthas Herz schlägt, das jetzt auch manchmal zu hinken scheint, wenn sie sich aufrichtet, zur Seite dreht oder aufstehen will. Manchmal schmerzt es, als würde es sich verkrampfen, bis es klein und hart wird. Eine Faust in ihrem Brustkorb. Nie hat sie ihr Herz zuvor so gespürt, es hat vielleicht einmal schneller geschlagen, es hat geklopft, niemals hat es geschmerzt. Es hat seinen Dienst versehen, ohne in Erscheinung zu treten, zuverlässig, still, beinahe heimlich, wie ein kleines Tier in ihrem Inneren verborgen; jetzt lauscht sie manchmal darauf, auf dieses fremde Wesen. Sie hat sich nie Gedanken darum gemacht. Nun muss sie sich über vieles Gedanken machen.
Tock-tock, tock-tock, die Musik all ihrer Nächte, seit sie ihr das Radio weggenommen haben, eintöniger, trockener Rhythmus der Zeit, die zäh dahinfließt in der Nacht und dennoch zu schnell vergeht, weil nichts besser wird mit ihrem Fortschreiten, sondern nur schlimmer, jeden Tag ein bisschen unerträglicher. Und jeden Tag denkt sie, es ginge nun gerade noch, so werde sie es schon aushalten können. Erst jetzt weiß sie, dass sie es schon lange nicht mehr aushalten kann.
Das Licht erlischt. Vollkommene Finsternis. Ihr Zimmer ein Sarg. Wenigstens kein Fliegeralarm heute Nacht. Tock-tock, tock-tock, noch schlägt ihr Herz im hinkenden Zweivierteltakt mit der Uhr. Ihre Hände liegen auf der Decke, fremd wie ihr Herz, fadenscheinige, fleckige Haut, abgetragen.
Das Licht geht an. Es kriecht aus dem Lämpchen auf ihrem Nachttisch gerade bis zum Fußende ihres Bettes. Sie lässt es immer eingeschaltet, meist ist es sowieso ohne Strom. Wenn es aufflackert, suchen ihre Augen das Vertraute, umrunden Konturen, die langsam sichtbarer werden, wie bei dem Kinderspiel, als sie Münzen unter ein Papier legten und mit einem Bleistift darüberfuhren, bis Ziffern, Buchstaben oder die Silhouette des König sich darauf abzeichneten. Vieles wird nur noch im Kopf sichtbar, die Erinnerung ist so gegenwärtig wie die Gegenwart.
Max, da ist Max, blanker Schädel, Raubvogelnase, hochgezogene Augenbraue. Immer zwischen 60 und 70 Jahren, nie als junger Mann, eilt er durchs Zimmer, tritt über Schwellen, immer kommt er gerade herein, nie geht er hinaus. Nur wenn er malt, bleibt er auf der Stelle. Das Unruhige lebt in ihren Träumen fort – und das Banale. Er fragt nach dem Essen und ob sich Besuch angesagt habe, er bemängelt, dass ein Strauß Pfingstrosen zu alt sei, das Wasser faulig rieche, und erregt sich darüber, dass der Strauß fortgenommen wurde, der doch gerade erst seinen eigentlich Reiz entfaltet habe.
Käthe lacht. Sie ist die Einzige, die über so etwas lachen darf. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen und wippt mit der Fußspitze. »Aber, Papa!« Ihr Kopf schief gelegt. Der Gesichtsausdruck mokant. Bei ihr ist alles ein Vorzug. Die kurze Bubikopffrisur endet knapp über dem Ohrläppchen. Max: »Die schönen, langen Haare!« und dann doch: »Mach nur, Kind, man muss mit der Zeit jehen.«
Automobile holpern, Fuhrwerke quietschen, Hufe rutschen über die Kopfsteine, ein Zeitungsjunge ruft Schlagzeilen aus. Er konkurriert mit dem Leierkastenmann: »Du, du sollst der Kaiser meiner Seele sein.« Die Stadt drängt durch die Fenster.
Martha öffnet die Balkontür und tritt auf die Terrasse hinaus. Im Wind klingeln Ringe und Haken an den Takelagen der Segelboote. Die Leierkastenmelodie verweht über dem Wannsee. Das Wasser liegt schwarz mit weißen Tupfen. Max kommt wieder einmal über die Schwelle, diesmal über die ihres Sommerhauses: »Lass uns een Rundjang durch den Jarten machen.« Einer ihrer Dackel wackelt hinter ihnen her. Es duftet nach Flieder. Parksand knirscht unter ihren Sohlen. Käthe hakt sich ein.
Das ist das Tableau. Max und sie, Käthe in der Mitte, Marie, die Enkelin, und der Dackel. Selten, eigentlich nie, der Schwiegersohn Riezler.
Das Licht geht aus. Die Angst kommt. Was sich in ihrem Gedächtnis die schönsten Plätze gesucht hat, ist ihr jetzt Beschwernis, liegt auf der Seele als Verlust.
Jetzt würde Martha gerne aufstehen und davonlaufen. Wenn es hell wird, mag sie nicht mehr fliehen. Da ist das Bett die Trutzburg gegen das Draußen. Ihr Leben findet fast nur noch in diesem Bett statt und drüben im Turmzimmer im Sessel, ihr Radius ist klein geworden, dreht sich allein ums Überleben, bei jeder Drehung wird er enger, formt eine Spirale, die sie tiefer zieht, am Ende wird sie sich nur noch um sich selber drehen, schneller und schneller, Schwindel ergreift sie, das zerrt an ihrem Dasein, wie ein Abfluss aus dem Leben, blubb und weg.
Als er vors Haus tritt, steht diese schwarze Limousine auf der gegenüberliegenden Straßenseite wie eine Drohung. Zu Beginn des dritten Kriegsjahres gibt es selbst im Tiergartenviertel kaum noch Privatfahrzeuge, und wem es gelungen ist, seinen Wagen vor der Beschlagnahme zu retten, der hat keinen Treibstoff. Vielleicht will die Gestapo ihn einschüchtern.
Edgar Baron von Uexküll läuft die Admiral-von-Schröder-Straße hinunter. Nur einmal sieht er kurz über die Schulter und stellt fest, dass die dunkle Limousine ihm im Schritttempo folgt, so wie er es erwartet hat. Er bummelt betont langsam am Landwehrkanal entlang. Gegenüber vom Shell-Haus bleibt er stehen und stützt die Ellenbogen auf das Geländer. Im Wasser verzittert die wellenförmige Fassade zum Zerrbild. Der Traum einer anderen Zeit! Heute residiert in dem Gebäude das Oberkommando der Marine. Kriegerische Nutzungen haben sich der Moderne bemächtigt.
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