Was sie nicht sah, war, dass sie unbewusst diese Erfahrungen selbst wählte. Es waren ihre unbewussten Entscheidungen, die zu den Resultaten in ihrem Leben führten. In der großen Vielfalt der Männer auf dieser Welt, hatte sie sich unbewusst für einen Mann entschieden, der trank, sie beschimpfte, betrog und sie um ihr Erspartes brachte. In der großen Auswahl der Jobs suchte sie sich unbewusst einen Job aus, der weit unter ihrem Potenzial und außerhalb ihres Interesses lag. In der freien Entscheidung, welche Nahrung sie zu sich nahm, entschied sie sich unbewusst für die Nahrung, die dazu führte, dass sie in einem Körper lebte, der aus ihrer Sicht nicht gut genug war.
Und all das wurde ausgelöst durch ihre Bewertungen des Satzes: »Tina du musst aufpassen! Wenn du jetzt noch weiter zunimmst, siehst du bald aus wie Tante Rosi.«
Stell dir vor, statt »Du bist nicht so gut und schön wie deine Schwester!« hätte Tina dem Satz ihres Vaters eine andere Bedeutung gegeben. Ihr Leben wäre wahrscheinlich ganz anders verlaufen.
Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät, Erlebnissen aus der Vergangenheit eine neue Bedeutung zu geben. Aus diesem Grund fragte ich Tina im Coaching, welche andere Bedeutung der Satz ihres Vaters hätte haben können. Ich werde nie vergessen, wie verständnislos sie mich ansah.
»Was meinst du?«, fragte sie mich.
Ich antwortete mit meinem Lieblingsspruch:
»Nichts hat irgendeine Bedeutung, außer der Bedeutung, die wir den Dingen geben.«
»Du meinst, mein Vater könnte den Satz ganz anders gemeint haben?«, fragte sie erstaunt.
»Genau! Dein Vater hat diesen Satz sogar mit 99 % Wahrscheinlichkeit anders gemeint, als du ihn interpretierst hast.«
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, war ihre Antwort.
Fakt ist, wir können nicht wissen, was in anderen Menschen vor sich geht. Aufgrund der Tatsache, dass wir alle eine unterschiedliche Erziehung genießen, verschiedene Erfahrungen machen und andere Glaubenssätze und Werte entwickeln, nehmen wir die Welt natürlich auch alle unterschiedlich wahr. Jeder Mensch hat seine ganz eigene Realität und wir können von außen niemals zu 100 % sicher sein, was innerlich in einem anderen Menschen vorgeht. Teilweise verstehen wir uns ja nicht einmal selbst. Wieso maßen wir uns also an, zu beurteilen, was ein anderer Mensch denkt, fühlt oder meint?
Dass wir davon ausgehen, zu wissen, was das Gegenüber denkt oder meint, ist der zuvor erläuterten Funktion unseres Gehirns geschuldet, in allem einen logischen Zusammenhang erkennen zu wollen. Unser Gehirn will Sinn erkennen; was es jedoch eigentlich tut, ist, Sinn zu erfinden. Wenn wir also sowieso nicht wissen, wie die Dinge wirklich sind, warum geben wir ihnen dann nicht eine Bedeutung, die uns gut fühlen lässt? Denn es ist schließlich die Qualität unserer Gefühle, die am Ende über die Qualität unseres Lebens entscheidet.
Aus diesem Grund sollten wir aufhören, Geschehnisse in einer Art und Weise zu bewerten, die uns klein und minderwertig fühlen lässt. Stattdessen sollten wir anfangen, den Dingen eine Bedeutung zu geben, die uns weiterbringt. Wir sollten Bedeutungen vergeben, die entweder neutral sind oder uns sogar dabei unterstützen, das Leben zu leben, das wir uns wünschen.
Das Schöne an Bedeutungen ist, wie gesagt, dass wir sie auch rückwirkend noch verändern können. Zwar können wir nicht in die Vergangenheit reisen und Geschehenes ungeschehen machen, aber wir können die Bedeutung verändern, die wir Erlebnissen beigemessen haben, und damit unser Gefühl im Hier und Jetzt positiv beeinflussen. Wie wir uns im Hier und Jetzt fühlen, hat wiederum Einfluss auf unsere Zukunft.
BEISPIEL
Aus diesem Grund war es mir wichtig, dass Tina Möglichkeiten erkennt, wie ihr Vater besagten Satz alternativ hätte meinen können. Da Tina mich jedoch immer noch völlig blockiert anschaute, brainstormten wir gemeinsam nach unterschiedlichsten Bedeutungen. Statt »Du bist nicht so gut und schön wie deine Schwester!« hätte es zum Beispiel sein können, dass der Vater sich große Sorgen um Tinas Gesundheit machte und sie mit dieser Aussage schützen wollte. Es könnte auch sein, dass der Vater sich lange Jahre große Sorgen um besagte Tante gemacht und hautnah miterlebt hatte, wie diese unter ihrem Gewicht litt. Mit seiner Aussage wollte er vielleicht bewirken, dass Tina ein solches Schicksaal erspart bliebe.
Ein Vater will in der Regel immer das Beste für sein Kind und die Wahrscheinlichkeit, dass Tinas Vater besagten Satz aus Sorge, statt aus Boshaftigkeit sagte, ist um ein Vielfaches höher. Zusätzlich zum Brainstorming nach neuen Bedeutungen, bat ich Tina, den Satz ihres Vaters noch einmal auf Papier zu bringen und im Anschluss Hinweise auf ihre Schwester zu markieren.
»Kind, wenn du nicht aufpasst, siehst du bald aus wie Tante Rosi.«
Als Tina den Satz geschrieben vor sich sah, fiel ihr das erste Mal auf, dass ihre Schwester in dem Satz überhaupt nicht erwähnt wurde. Daraufhin bat ich sie, ein paar Beispiele zu nennen, wann der Vater sie und ihre Schwester in anderen Situationen miteinander verglichen hatte. Nach einigen Minuten schaute Tina mich an und sagte:
»Mir fällt nichts ein, mein Vater hat uns eigentlich nie miteinander verglichen.«
Außerdem veranstaltete ich ein kleines Rollenspiel mit Tina, in dem sie die Rolle ihrer Schwester übernehmen sollte. Sie sollte ihre eigenen Erfolge im Leben aus der Perspektive ihrer Schwester bewerten.
»Ich habe einen besseren Schulabschluss als meine Schwester«, sagte Tina plötzlich.
Ich fragte sie daraufhin:
»Und wie hätte deine Schwester diese Tatsache bewerten können?«
Tina: »Dass ich schlauer bin als sie?«
Ich: »Ja, zum Beispiel.«
Ob sie das getan hat, wissen wir nicht. Das kommt wieder ganz auf ihre eigenen Erfahrungen, inneren Überzeugungen und Werte an.
Nach dem Durchspielen der verschiedenen Szenarien bat ich Tina, nun eine neue Bedeutung für den Satz ihres Vaters auszusuchen und diese fest in ihrem Herzen zu verankern. Tina entschied sich für: »Mein Vater sorgt sich um mein physisches und psychisches Wohlergehen, weil er mich liebt und es ihm wichtig ist, dass ich mein Leben in vollen Zügen genießen kann.« Auch die innere Überzeugung, nicht gut genug zu sein, formulierten wir im Coaching neu. Aus »Ich bin nicht gut genug« wurde »Mein Leben ist wertvoll«. Die neue Überzeugung, »Mein Leben ist wertvoll«, entstand aus dem Gedanken, dass Tinas Vater ihr Leben als wertvoll erachtete und sie deshalb darauf hinweisen wollte, auf ihr Gewicht zu achten.
Anschließend fragte ich Tina:
»Was würde jemand, der sein Leben als wertvoll erachtet, anders machen als du es bisher tust?«
Ziemlich schnell sprudelte es aus ihr heraus.
»Wenn mein Leben wertvoll ist, darf ich keine Sekunde mehr in diesem Job verweilen, der mir so viel Energie raubt! Ich muss mich mit Menschen umgeben, die mir das Gefühl vermitteln, wertvoll zu sein, und mich von denen distanzieren, die mir das Gegenteil vermitteln. Ich muss außerdem unbedingt besser auf meine Gesundheit achten, mich besser ernähren, mich mehr bewegen, mein Stresslevel reduzieren.«
Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Moment, als Tina diese Punkte euphorisch aufzählte. Das ist nämlich der Teil meiner Arbeit, den ich am meisten liebe. Denn hier ist etwas wirklich Spannendes passiert: Was Tina sagte, war im Prinzip nichts Neues, es waren ja genau diese Punkte, die sie dazu veranlasst hatten, ein Coaching bei mir zu buchen. Auf der logischen Ebene hatte sie also längst begriffen, was sie verändern sollte und wollte. Doch in diesem Moment hatte die Notwendigkeit dieser Veränderung zum ersten Mal ihr Herz berührt.
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