Bei der Begleitung der Sandbildgeschichten beziehe ich mich auf narrative Konzepte: Narrative Therapie versucht, Problemerzählungen zu dekonstruieren, die Menschen über sich erzählen (White 2010; White u. Epston 1993). Reframings führen neue Perspektiven ein, generalisierende Problemzuschreibungen werden durch eine Re-Kontextualisierung aufgelöst. Alternative Erfahrungen und Momente, die in den bisher dominierenden Erzählungen ausgeblendet wurden, werden hervorgehoben und erhalten besondere Aufmerksamkeit.
Im Sandspiel bauen Kinder ihre »Problemerzählungen« in den Sand. Werden Sandbilder in Bewegung gebracht, öffnen sich ihre Geschichten. Bei der Umsetzung von Lösungsideen entstehen Erfahrungen von Erstmaligkeit, »unique events«, die oft in eindrucksvollen Szenen haften bleiben. Parallel zum Probehandeln im Sand gelingt es vielen Kindern, Blockaden aufzulösen und in ihrer Entwicklung wieder voranzukommen.
Abschluss und Veröffentlichung der Sandbilder
Ist im Sand ein gutes Ende entstanden, bietet es sich an, in die Szene hineinzusprechen und das Geschehen für das Kind noch einmal zusammenzufassen. In einer kleinen Trance kann bekräftigt werden, wie gut die Geschichte ausgegangen ist. Dies kann aus der Sicht einer beteiligten Figur geschehen oder auch aus der Außenperspektive eines Vogels, der vielleicht von einem Baum aus zuschaut.
»… und das kleine Einhorn im Sand schaut zu dem Schwan … und es freut sich, dass endlich jemand merkt, dass sein Flügel wieder heil ist … wie wohl er sich fühlt und kräftig … lebendig und stark …
Es schaut zu, wie der Schwan sich bewegt und seine Flügel aufspannt … und auf einmal losschwebt, schwerelos … sich tragen lässt … spürt, wie die Sonne seine Flügel wärmt … und es genießt umherzufliegen … ganz leicht und frei … und auch das Einhorn spürt die Wärme der Sonne und streckt sich und steht auf …«
Ist die Handlung beendet, wird das Abschlussbild fotografiert und die Geschichte für das Kind festgehalten. Viele Kinder formulieren ihre Geschichten gern selbst und geben ihnen einen Titel. Häufig gewählte Einleitungen wie »Es war einmal« tragen dazu bei, belastende Erlebnisse in der Vergangenheit zu verorten und von der Gegenwart abzugrenzen.
Im klassischen Setting der Sandspieltherapie werden Sandbilder den Eltern nicht gezeigt, sondern verbleiben im Raum der Einzeltherapie. Orientiert an einem systemischen Therapieverständnis, 5lasse ich Kinder dagegen selbst entscheiden, ob sie ihr Sandbild zeigen möchten oder nicht. Eltern definiere ich dabei als Besucher in der Therapiestunde des Kindes (»Ihr Sohn lädt Sie ein, einmal zu schauen …«) und stelle dem Kind frei, ob es »nur schauen« oder auch etwas zu seinem Bild erzählen möchte. Die Eltern bereite ich schon bei Therapiebeginn darauf vor, Sandbilder nicht zu »zerreden« oder vor dem Kind Bezüge zur Realebene herzustellen.
Die Öffnung des Settings kann viel dazu beitragen, Eltern einen emotionalen Zugang zum Erleben des Kindes zu ermöglichen. Oft entsteht eine vertiefte Kommunikation in der Familie.
MARIE möchte ihre Sandbilder am Ende der Stunden ihrer Mutter zeigen. Die Eltern sind überrascht, dass die Fehlgeburt für sie noch so wichtig zu sein scheint. Gespräche hierüber werden angeregt. Gleichzeitig teilt Marie auf Symbolebene mit, dass die Zeit der Sorgen um sie vorbei ist: Die Sperren, die um den Schwan aufgestellt sind, können wieder entfernt werden. Die Kinder gehen dabei voran.
Übersicht: Bilder in Bewegung bringen
• Das Sandspiel erklären: »bauen« statt »spielen«.
• Kontakt zum Sand ermöglichen, Tranceprozessen Raum geben.
• Das fertige Sandbild auf einem Foto festhalten.
• Es gemeinsam betrachten und beschreiben lassen.
• Wünsche und Bedürfnisse erkunden; Suchprozesse in Richtung einer gewünschten Lösung anregen.
• Das Sandbild als Momentaufnahme kennzeichnen: »Wie könnte die Geschichte weitergehen?«
• »Über Bande spielen«: Wertschätzende Kommentare zu Spielfiguren richten sich indirekt an das Kind.
• Abschlussfoto; Geschichte notieren.
Sandbilder als Brücke in die Familientherapie
Sandbilder ermöglichen es Kindern, Anliegen in die Therapie einzubringen, die oft sprachlich von ihnen nicht benannt werden könnten. Dies beteiligt sie an der Auftragsklärung, die von Elternseite her meist auf eine Beseitigung von Symptomen ausgerichtet ist (Rotthaus 2003). Solche Aufträge können nach systemischem Verständnis nicht unhinterfragt angenommen werden: Symptome werden systemisch auch als Weg verstanden, über den ein Kind Bindungsbedürfnisse zum Ausdruck bringen und auf Veränderungsbedarf in der Familie hinweisen kann (Retzlaff 2013; Grossmann 2018; Wagner u. Binnenstein 2018). Ein Vorgehen mit einer Haltung von Allparteilichkeit und flexiblem Setting kann dazu beitragen, solche Anliegen aufzugreifen und Entwicklungsprozesse in Familien anzustoßen.
JAKOB, 9 JAHRE alt, stellt in einem Sandbild dar, wie sich Vogeleltern um ihren Nachwuchs kümmern: Während ein Vogel brütet, holt der andere Futter herbei. Besorgt schildert Jakob, dass die Küken sterben müssten, wenn einer der Vogeleltern ausfiele. Dies führt zu seiner Angst um den Vater, der (scheinbar heimlich) trinkt, und dem Dilemma, dass sich die Eltern trennen könnten, wenn seine Mutter von seinen Sorgen wüsste (Brächter 2010, S. 184 ff.)
NATASCHA, die mit 8 JAHREN außerhalb der Familie nicht spricht, lässt in ihren Sandbildern eine Schildkröte Zeugin bedrohlicher Szenen werden. Da die Schildkröte stumm ist, kann sie die anderen nicht warnen.
In einer Therapiestunde konfrontiert Natascha ihren Vater mit einem Sandbild, das er mit massiven und teils gewalttätig ausgetragenen Ehekonflikten in Verbindung bringt. Nachdem das Schweigen durch das Sandbild gebrochen wurde, können die Eltern in einem längst überfälligen Trennungsprozess begleitet werden (Brächter 2010, S. 85).
Sorgen, mit denen Kindern beschäftigt sind, lassen sich an ihrem nach außen gezeigten Verhalten nicht ablesen. Ihnen hierfür eine Mitteilungsmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, unterscheidet systemische Sandspieltherapie grundlegend von rein störungsspezifischen, manualisierten Konzepten.
Oft werden Eltern angeregt, sich mit eigenem, von ihnen nicht gewünschtem Elternverhalten auseinanderzusetzen. So kann sich ein Vater in einem Stein wiedererkennen, der beinah kleine Tiere überrollt. Das Bild hilft ihm, sich im Kontakt zu seinem Sohn zurückzunehmen und besser auf dessen Tempo einzustellen (Brächter 2010, S. 84 ff.).
2.2 Narratives Sandspiel mit Familien
Sandspieltherapie lässt sich auch in der systemischen Arbeit mit Familien nutzen. Neben der Gestaltung von Familienskulpturen im Sand (siehe Kap. 3.1) bietet sich die Möglichkeit, gemeinsam Sandbilder zu bauen und hieraus Geschichten zu entwickeln.
Familiensandbilder werden teils auch in der Sandspieltherapie nach Dora Kalff erstellt. In der Regel werden sie von allen gleichzeitig schweigend gestaltet, ohne dass die Sandfläche aufgeteilt oder ein besonderes Vorgehen abgesprochen würde (vgl. zum Beispiel Heinzel-Junger 2018). Anschließend werden die Sandbilder gemeinsam betrachtet, aber nicht verändert.
Gemeinsam konstruierte Sandbildgeschichten
Im narrativen Sandspiel werden auch Familiensandbilder in Bewegung versetzt; Geschichten, die aus ihnen entstehen, werden gemeinsam weitergespielt. Bei der Gestaltung der Sandbilder nutze ich ein Vorgehen, das auch jüngeren oder ängstlichen Kindern einen Einstieg erleichtert (»gemeinsam konstruierte Sandbildgeschichten«, Brächter 2010, S. 106 ff.). Reihum stellen Eltern und Kinder Objekte in den Sand, wobei ich mich eingangs beteilige und den Eltern in der Regulierung des Tempos und der Ansprache an das Kind als Modell diene. Zunächst wird die Umgebung gebaut, später werden Figuren hinzugefügt. Fällt es einem Kind noch schwer, zu sprechen und selbst etwas auszuwählen, helfe ich ihm durch ein »Ratespiel«, welche Figur es wohl anschaut und wohin sie gestellt werden soll. Das ruhige und strukturierte Vorgehen bietet Eltern und Kindern viel Sicherheit; von Runde zu Runde beteiligen sich auch zurückhaltende Kinder aktiver an der Gestaltung.
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