Abb. 1: Der verletzte Schwan
Die Szene spiegelt Maries Lebenssituation, die nach der Fehlgeburt eines erwarteten Geschwisterchens von Sorgen der Eltern um die Tochter bestimmt ist. Auch von ihr aus ist es zu einer ängstlichen Anbindung an die Eltern gekommen.
Längere Zeit sitzen wir vor dem Sandbild und betrachten es; auch die Prinzessinnen schauen auf den Schwan und scheinen abzuwarten. Schließlich teilt mir Marie mit, dass die Geschichte weitergeht: Kinder bemerken als Erste, dass der Flügel wieder geheilt ist, und sammeln die Sperren ein. Der Schwan freut sich, dass er wieder frei ist und fliegen kann (Abb. 2).
Ein späteres Sandbild Maries thematisiert eine Geburtssituation, die gut endet. Wieder sind Prinzessinnen zusammen am Strand; dort entdecken sie eine Schildkröte, die ein Baby bekommt. Die Mutterschildkröte testet den Panzer der kleinen Schildkröte: Er ist stabil und hält. Einhörner kommen und helfen bei der Geburt, ein Geschenk wird im Sand versteckt.
Abb. 2: Die Sperren werden entfernt
Begleitung des Sandspiels und Entwicklung von Sandbildgeschichten
Einstimmung auf das Sandspiel
In Sandbildern tauchen häufig Themen auf, die dem Alltagsbewusstsein nicht zugänglich sind. Damit Kontakt zu tieferen Ebenen des Erlebens entstehen kann, ist es bei Kindern 3oft wichtig, zunächst das Spielgeschehen zu entschleunigen. Ich teile dem Kind mit, dass man im Sand etwas »bauen« kann, und stelle in Aussicht, ein Foto zu machen, wenn es damit fertig ist. Damit grenze ich das Sandspiel vom beiläufigen Spiel ab, bei dem ein Kind beispielsweise ein Auto durch den Sand fahren lässt und sich danach wieder etwas anderem zuwendet. Ich lasse die unterschiedlichen Qualitäten von nassem und trockenem Sand erkunden, die in zwei Kästen zur Verfügung stehen, und rege an, mit den Händen Kontakt zum Sand aufzunehmen und ihn zu formen, bevor Figuren hineingestellt werden.
Um Tranceprozessen beim Gestalten im Sand Raum zu geben, begleite ich das Entstehen der Sandbilder in der Regel schweigend an der Seite des Sandkastens. Können Kinder Stille schlecht aushalten und sprechen selbst unentwegt, spiegele ich den Gestaltungsprozess und erzeuge eine Art Klangteppich, der ihnen Sicherheit gibt (»Dort ist ein Haus, da fließt ein Fluss …«). Beginnen sie zu spielen, erinnere ich an das Foto und frage, ob sie schon fertig sind. Dies verhilft auch sehr flüchtigen Kindern oft zu einem vertieften Bauen. Findet ein Kind bei der Gestaltung kein Ende, orientiere ich es von der Fülle des Materials im Sandspielregal zurück auf sein Sandbild und frage, welche zwei oder drei Dinge noch fehlen, damit das Bild vollständig ist. Ausnahmen mache ich, wenn es für ein Kind nach früher erlebter Vernachlässigung wichtig ist, die eigenen Figuren umfassend zu versorgen.
Betrachtung und Reflexion des Sandbilds
Ist das Sandbild fertiggestellt, wird es auf einem Foto festgehalten. Ich setzte mich neben das Kind und schlage vor, das Gebaute erst einmal gemeinsam anzuschauen. Dabei achte ich auf nonverbale Reaktionen des Kindes und auch auf Impulse, die bei mir durch das Sandbild entstehen. Anschließend lasse ich mir beschreiben, was im Sand geschieht. Während das Kind erzählt, versuche ich, mich im Sandbild zu orientieren und einen möglichen Bezug zu seiner Lebenssituation zu erfassen. Aus konstruktivistischer Perspektive deute ich die verwendeten Symbole nicht; im Gespräch interessiert mich ihre subjektive Bedeutung für das Kind.
Sandbilder können können »objekt-« und »subjektstufig« betrachtet werden: Sie können Themen aus dem sozialen Umfeld eines Kindes abbilden oder sich auf innere Anteile seines Erlebens beziehen (von Gontard 2007, S. 138 f.; Brächter 2010, S. 57 ff.). Wichtig ist mir, mit meinen Fragen keine Position gegen einzelne Bildelemente zu beziehen, da sie möglicherweise Teile seines »inneren Teams« repräsentieren. So kann ein hungriger Hai, der sich Menschen in einem Boot nähert, eine von außen erlebte Bedrohung widerspiegeln; er kann aber auch als Wunsch eines bisher eher ängstlichen Jungen verstanden werden, eigenen Bedürfnissen endlich Raum zu geben und für sie einzutreten. Hinweise zu einer Einordnung geben die Erzählungen und Körpersignale des Kindes. Erzählt es angeregt-freudig und interessiert, oder gibt es Anzeichen für traumatisches Erleben? 4Ich reflektiere, welche Ich-Zustände des Kindes möglicherweise im Sandbild sichtbar werden und wie sie in einen Ausgleich gebracht werden könnten (Brächter 2014a und c).
In meine Hypothesenbildung beziehe ich auch die räumliche Gestaltung des Sandbilds ein. Dabei orientiere ich mich an raumsymbolischen Deutungsmustern aus der Sandspieltheorie, die unter anderem von einer Entwicklungsrichtung aus der Vergangenheit (links) in die Zukunft (rechts) ausgehen. Diese Zukunftsrichtung kann im Sandbild blockiert sein, etwa durch Mauern oder ein Gebirge. Figuren können auch im Spannungsfeld von Polen stehen, die in entgegengesetzten Ecken des Sandbilds angeordnet sind. Für die Weiterarbeit mit dem Sandbild stellt sich dann oft die Frage, wie die Hindernisse überwunden werden können und welcher Weg aus dem Konfliktfeld hinausführt (Brächter 2010, S. 57 ff.).
Im Anhang findet sich eine Übersicht zur Orientierung in Sandbildern. Ich empfehle, sie heranzuziehen und Sandbilder im Anschluss an Therapiestunden entsprechend auszuwerten, um mit der Zeit einen schnelleren Zugang zu ihnen gewinnen zu können.
Zeigt sich im Sandbild eine Problemsituation, versuche ich die vom Kind gewünschte Lösungsrichtung zu erfassen und Suchprozesse anzuregen. Außer für die Handlungsebene interessiere ich mich dabei für Gefühle und Bedürfnisse der Figuren: »Was würdest du den Figuren wünschen? Wer könnte zur Hilfe kommen?«
Hypnotherapeutisch betrachtet, versetzt das intensive Eintauchen ins Sandspiel Kinder in einen Trancezustand, in dem sie für hypothetische, zukunftsorientierte Fragen besonders offen sind.
Statt selbst Lösungswege vorzugeben, mache ich auf Ressourcen im Sandbild aufmerksam, die das Kind vielleicht noch nicht bemerkt hat. Perspektiven lassen sich erweitern, indem (Rand-)Figuren aus dem Sandbild einbezogen und nach ihren Ideen befragt werden. Hierbei hole ich gerne Vorschläge der Kinder ein: »Was, glaubst du, könnte der Fuchs denken, der vom Wald aus zuschaut?« Hypnotherapeutisch orientierte Umformulierungen (»noch nicht« statt »nie«, Prior 2009) tragen dazu bei, starre Wahrnehmungsmuster aufzulösen und eine Suche nach »Öffnungen« in der Problemsicht vorzubereiten.
Vom Bild in eine Geschichte finden
Für Lowenfeld liegt eine »außerordentliche Kraft« der Sandspieltherapie darin, dass man nach dem Bau eines Sandbilds noch stark mit der gerade geschaffenen Szene verbunden ist, die man gleichzeitig von außen betrachten kann. Diesen besonderen Moment nutze ich zur Anregung einer Sandbildgeschichte: »Wenn das ein Moment aus einer Geschichte wäre, wie würde sie weitergehen?«
In den meisten Fällen greifen Kinder die Idee gerne auf, ihr Sandbild in Bewegung zu versetzen. Verstehen sie es als veränderbar, löst sich oft augenblicklich die Problemtrance auf, mit der zuvor auf das Bild geblickt wurde; es entstehen neue Ideen und Handlungsimpulse. Anschließend wird die Geschichte vom Kind selbsttätig weitergespielt und wirkungsvoll geankert. Durch Kommentare zum Spielgeschehen kann die Inszenierung noch verdichtet werden; selbstwertstärkende Botschaften können an Figuren gerichtet werden, mit denen sich das Kind identifiziert.
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