Hermann Ebbinghaus war der erste Psychologe, der sich systematisch mit dem Lernen auseinandersetzte. 1885 unterzog er sich selbst einem Experiment. John Locke und David Hume hatten die These aufgestellt, dass der Vorgang des Erinnerns an Assoziationen geknüpft sei, durch die Gegenstände mit gemeinsamen Merkmalen (gleicher Ort, gleiche Zeit usw.) miteinander verbunden würden. Ebbinghaus beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen.
Gedächtnisexperimente
Zunächst lernte er eine Reihe von Wörtern auswendig und testete, an wie viele davon er sich erinnern konnte. Um auszuschließen, dass Assoziationen eine Rolle spielten, erstellte er Listen mit insgesamt 2300 sinnlosen, aus jeweils zwei Konsonanten und einem Vokal bestehenden Silben (z. B. »zuc« oder »qax«). Diese Silbenreihen ging er mit 15-sekündigen Unterbrechungen immer wieder durch, bis er sie fehlerfrei wiedergeben konnte. Er experimentierte mit unterschiedlich langen Reihen und Lernintervallen und notierte sich, wie schnell er lernte und wieder vergaß.
Die Versuche ergaben, dass er sich an sinnvolle Texte – Gedichte z. B. – zehnmal leichter erinnern konnte als an sinnlose Silben. Dennoch galt: Je öfter er die Silbenreihen wiederholte, umso schneller konnte er das Gelernte richtig wiedergeben. Die ersten Durchgänge erwiesen sich als die effektivsten.
Als Ebbinghaus überprüfte, wie viel, wie schnell und was er vergessen hatte, stellte er fest, dass er die Silbenreihen, mit denen er sich am längsten beschäftigt hatte, langsamer vergaß als andere. Und er konnte sich unmittelbar nach dem Auswendiglernen am besten an sie erinnern. Doch wie viel von dem Gelernten blieb auf Dauer im Gedächtnis haften? Ebbinghaus stellte fest, dass wir innerhalb der ersten Stunde nach einer Lerneinheit am meisten und in den Stunden darauf immer weniger vergessen. Nach neun Stunden sind ungefähr 60 Prozent, nach 24 Stunden etwa zwei Drittel des Gelernten »weg«. In eine Grafik überführt, ergibt sich daraus eine »Vergessenskurve«, die zunächst steil abfällt und dann flach ausläuft.
Lernstoffhaftet länger im Gedächtnis und kann leichter reproduziert werden, wenn wir ihn uns zusätzlich auf akustischem Weg aneignen, stellte Hermann Ebbinghaus fest.
Ebbinghaus erschloss so ein ganz neues Forschungsfeld und trug dazu bei, die Psychologie als Naturwissenschaft zu etablieren. Seine methodische Akribie setzt bis heute den Maßstab für psychologische Experimente. 
Hermann Ebbinghaus
Hermann Ebbinghaus wurde in Barmen als Sohn eines protestantischen Unternehmers geboren. Im Alter von 17 Jahren begann er in Bonn Philosophie zu studieren. 1873 beendete er sein Studium und zog nach Berlin. Er unternahm Reisen nach Frankreich und England, wo er sich 1879 der Erforschung seines eigenen Gedächtnisses zuwandte.
1885 veröffentlichte er seine Habilitationsschrift Über das Gedächtnis und wurde noch im selben Jahr Professor an der Universität Berlin. Dort baute er zwei psychologische Labore auf und gründete mit Arthur König zusammen die Zeitschrift für Psychologie und Physiologie. Im Jahr 1894 folgte Ebbinghaus dann dem Ruf an die Universität Breslau. Schließlich siedelte er nach Halle über. Dort lehrte er, bis er im Februar 1909 im Alter von 59 Jahren an einer Lungenentzündung starb.
Hauptwerke
1885 Über das Gedächtnis
1897–1908 Grundzüge der Psychologie (2 Bde.)
1908 Abriss der Psychologie
DIE INTELLIGENZ EINES INDIVIDUUMS IST KEINE FIXE GRÖSSE
ALFRED BINET (1857–1911)
IM KONTEXT
ANSATZ
Intelligenztheorie
FRÜHER
1859Der englische Naturforscher Charles Darwin schreibt in Über die Entstehung der Arten , Intelligenz vererbe sich.
1890Der US-Psychologe James McKeen Cattell entwickelt Tests, mit denen sich individuelle Unterschiede im Hinblick auf geistige Fähigkeiten messen lassen.
SPÄTER
1920er-JahreDer englische pädagogische Psychologe Cyril Burt behauptet, Intelligenz sei hauptsächlich eine Frage der Gene.
1940er-JahreDer englische Psychologe Raymond Cattell definiert zwei Arten von Intelligenz: die fluide (angeborene) und die kristalline (durch Erfahrung erworbene).
Mit der Veröffentlichung von Charles Darwins Werk On the Origin of Species (1859, Über die Entstehung der Arten ) begann die Diskussion darüber, ob Intelligenz genetisch festgelegt sei oder sich durch äußere Einwirkungen verändern lasse. Darwins Cousin Francis Galton untersuchte Anfang der 1880er- Jahre etwa 9000 Londoner auf ihre kognitiven Fähigkeiten. Er kam zu dem Schluss, dass wir Menschen mit einer Basisintelligenz geboren werden, die eine fixe Größe darstellt. Etwa zur selben Zeit entwickelte Wilhelm Wundt das Konzept eines »Intelligenzquotienten« (IQ) und versuchte, diesen zu messen. Wundts Arbeit bildete die Grundlage für Alfred Binets Forschungen über die menschliche Intelligenz.
Fasziniert vom Lernen
Binet studierte Jura, Medizin und Biologie, ehe er sich für Psychologie zu interessieren begann. Vieles eignete er sich im Selbststudium an. Auf jeden Fall wusste er nach der mehr als sieben Jahre währenden Arbeit mit Jean-Martin Charcot an der Pariser Salpêtrière, dass Versuche präzise durchgeführt und sorgfältig geplant werden müssen. Der Wunsch, die menschliche Intelligenz zu erforschen, entstand aus der Beobachtung seiner beiden Töchter. Er stellte fest, dass sie neue Informationen mal schneller und mal langsamer aufnahmen, je nachdem wie aufmerksam sie waren. Die Umgebung und die aktuelle geistige Verfassung der Kinder schienen das Lernen entscheidend zu beeinflussen.
Nachdem er von Francis Galtons Versuchen gehört hatte, beschloss Binet, eine eigene, breit angelegte Studie durchzuführen. Er wollte mehr über die unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten etwa von Mathematikern, Schachspielern, Schriftstellern und Künstlern erfahren. Gleichzeitig setzte er seine Forschungen zur funktionalen Intelligenz von Kindern fort. Dabei stellte er fest, dass Kinder in einem gewissen Alter jeweils bestimmte Fähigkeiten erwerben. Sehr kleine Kinder z. B. können noch nicht abstrakt denken. Die Fähigkeit zum abstrakten Denken schien also auf ein höheres, altersspezifisches Intelligenzlevel hinzudeuten.
1899 erhielt Binet die Einladung, der neu gegründeten Societé libre pour l’étude psychologique de l’enfant – einer Gesellschaft für Kinderpsychologie – beizutreten. Schon bald übernahm er dort eine Führungsrolle und begann, pädagogische Artikel zu publizieren. 1882 war in Frankreich die Schulpflicht für Sechsbis Zwölfjährige eingeführt worden. 1904 wurde Binet in eine Regierungskommission berufen und damit beauftragt, eine Methode zu entwickeln, um das Lernpotenzial von Kindern zu beurteilen.
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