Ich weine nicht, aber meine Augen brennen und ich spüre einen Kloß im Hals. Aber ich weine nicht. Ja, meine Gefühle wurden verletzt, aber ich bin ja nicht in ihn verliebt. Nur zutiefst verletzt darüber, so behandelt zu werden. Also werde ich garantiert keine einzige Träne über so einen wie ihn verschwenden.
Atemlos schließe ich die Tür zu meiner und Tobis Wohnung auf. Ich laufe in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett. Mein Kopf schwirrt vor lauter Gedanken um den Mann, dem ich gerade mein tiefstes Innerstes offenbart habe.
Unglaublich, wie hoch hinaus er mich katapultieren konnte, ganz nach oben, wo die Luft dünn ist und einem schwindelig wird. Und noch viel unglaublicher, dass er mich danach einfach loslassen konnte, sodass ich mit voller Geschwindigkeit auf die Erde prallte, sodass meine Knochen rasselten und mir schwarz vor Augen wurde.
Zum Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee aufzuwachen ist immer ein guter Start in den Tag. Es ist mein Glück, dass mein Bruder genauso koffeinabhängig ist wie ich, und in diesem Moment hält er mir die volle, dampfende Tasse direkt unter die Nase. Mit einem verschlafenen Lächeln setze ich mich auf, streiche mir die zerzausten Strähnen hinter die Ohren und nehme die Tasse in beide Hände. Ich nippe sofort an dem heißen Getränk, denn bei Kaffee kann es mir nie schnell genug gehen – oder zu heiß sein.
Tobi setzt sich auf die Fensterbank. „Wo warst du gestern?"
Ich weiche seinem prüfenden Blick aus. Ich hätte es wissen müssen. Tobi bringt mir nur dann Kaffee ans Bett, wenn er etwas will. Es fällt ihm schwer, einfach nur mein Bruder zu sein. Wir zogen zusammen, als ich gerade 19 geworden war. Eigentlich hatte ich noch bei unseren Eltern zu Hause wohnen sollen, bis ich mit der Ausbildung fertig bin. Ja, unsere Eltern sind noch zusammen. Und selbst nach 44 Jahren lieben sie einander mit einer Tiefe und Hingabe, die ich selbst bestimmt nie finden werde. Die Kerle bereuen es ja schon, sobald sie das bekommen haben, was sie wollten , denkt ein zynischer Teil von mir bitter.
Nachdem Tobi ausgezogen war, verging gerade mal ein halbes Jahr, ehe meine Eltern und ich uns beinahe gegenseitig umgebracht haben. Ich hatte das Gefühl, bis zum Hals in einer plötzlichen Flut aus Regeln, abendlicher Ausgangssperre und nervigen Pflichten zu stecken. Ich meinte, und das meine ich im Übrigen noch immer, dass man, wenn man sich aus einer Laune heraus einen Chihuahua anschafft, sich auch selbst um das Tier kümmern muss und es nicht auf die 18-jährige Tochter abwälzen kann – und das nur mit der Begründung, dass wir alle die häuslichen Aufgaben teilen .
Naja gut, der einzige Grund für meinen Auszug war das natürlich nicht. Es gab so einiges, was plötzlich nicht mehr funktionierte, aber der Hund war das Erste, was mir als Begründung einfiel, als ich halb panisch meine Sachen packte und mich aus dem Staub machte. Inzwischen sind wir natürlich wieder ein Herz und eine Seele, und fast wäre ich sogar wieder nach Hause gezogen, denn ganz ehrlich ... so cool ist es auch wieder nicht, sich nachts die Kissen auf die Ohren zu pressen, weil einem das orgasmische Schreien der Frauen den Schlaf raubt. Mein Bruder denkt, er sei ein erstklassiger Liebhaber, und bei den Geräuschen, die aus seinem Zimmer dringen, wenn er Besuch hat, wage ich es fast, ihm zu glauben. Baah. Bei dem Gedanken allein wird mir übel. Es sollte verboten sein, seinen eigenen Bruder beim Sex hören zu können. Wenn das keine bleibenden Schäden verursacht, weiß ich auch nicht ...
Ich habe meine Lehre in der Bank gemacht und arbeite inzwischen in einer Nordea-Filiale. Nein, ich bin nicht in der Ausbildung zur Köchin. Ja, ich weiß, dass das gestern gesagt wurde, aber das war gelogen. Tobi hat das nur gesagt, weil er andere gern aus dem Konzept bringt, und in der gestrigen Situation war es eben Rune, der die Klappe halten sollte. Und in diesem Moment finde ich es ehrlich gesagt ganz geil, dass Rune jetzt denkt, etwas über mich zu wissen, was eine glatte Lüge ist. Soll er mich ruhig weiter als professionelle Köchin sehen. Nicht weil ich mich dafür schäme, Bankangestellte zu sein, aber Tobi sagt, dass Runes Kochkünste nichts Besonderes sind, und deshalb ist es ein gutes Gefühl, dass mein Gericht so sehr in seinem Geschmack entsprach. Dass ich ihm hinterher unbedingt noch ein Dessert servieren musste, ist der wahre Fehler.
Ich hätte Abführmittel in seine Portion mischen sollen.
„Du bist doch nicht etwa noch auf der Wache geblieben, oder?" Tobis Blick ist stechend.
„Was?" Ich sehe überrascht auf. „Ich? Nein, was denkst du denn! Was soll ich denn da, wenn du nicht da bist?"
Er schaut mich nur mit diesem Großer-Bruder-Blick an. Ich hasse ihn. Also, nicht so richtig. Aber wieso muss er nur so gut darin sein, mich zu durchschauen? Ganz ehrlich, mein Privatleben geht ihn gar nichts an. Bruder hin oder her.
Und das gebe ich ihm auch gleich zu verstehen: „Das geht dich einen feuchten Dreck an, wo ich gewesen bin. Guck dich doch selbst an mit deinen Bimbos!"
Ich stelle den Kaffee ab – so billig kann er mich nicht kaufen, dann mach ich lieber meinen eigenen Kaffee, der ist sowieso besser. „Mein Leben geht dich nichts an. Und selbst wenn ich dageblieben wäre und die ganze Mannschaft gefickt hätte, hättest du dazu schon mal gar nichts zu sagen!"
Meine Worte zeigen Wirkung: Er sieht so aus, als wolle er sich in meine Sammlung von Grünpflanzen übergeben.
Ich steige aus dem Bett, gehe hinaus in den Flur und weiter ins Bad, während es sich der hässliche Gedanke in meinem Kopf gemütlich macht. Ja, die ganze Mannschaft ist es nicht gewesen. Aber der Anfang ist auf jeden Fall gemacht ...
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