Hans Fallada MÄRCHEN VOM STADTSCHREIBER, DER AUFS LAND FLOG
Würzt die Wasser, würzt die Weine,
Ja, würzt selbst noch die Gewürze,
Daß der Punch auch würzig sei!
Vorrede des verlegenen Verfassers
Der Verfasser weiß auch nicht, was er zur Entschuldigung der närrischen Mär, die er da seinen Lesern vorlegt, sagen darf. Harmlos saß er schreibend über einem Büchlein, das mancherlei Geschichten aus seinem geliebten Landleben bringen sollte. Die Mär vom Stadtschreiber war eine von ihnen, für nicht mehr als zehn oder fünfzehn Druckseiten geplant – und sie sollte von der Winterarbeit des Landmannes berichten, wovon der Leser noch hie und da im Anfang Spuren findet. Aber unversehens schwoll sie dem Autor unter der Feder, ein Einfall lockte den anderen herbei, und hatte er sich anfangs noch zur Wehr gesetzt und verzweifelt gerufen: »Was mag dies werden?!« so ergab er sich schließlich in sein Schicksal und ließ die Feder laufen, wie sie wollte. So ist denn, ganz ohne seinen Willen, diese Zaubergeschichte aus dunklen Mächten und Liebe entstanden, und wenn recht sichtbarlich der große Ernst Theodor Amadeus Hoffmann bei ihr Pate gestanden hat, so bittet der Autor herzlich, das nicht als eine Anmaßung nehmen zu wollen, sondern als den Gruß des Schülers an seinen Meister, dessen Genie auch in unseren Tagen recht lebendig glüht und funkelt. Einzige Entschuldigung des Verfassers: er hat mit großer Freude dies Büchlein geschrieben, und da er stets die Erfahrung machte, daß das, was ihn zu schreiben freute, auch das Publikum zu lesen freute – so gibt er’s denn heraus. Fliege also zu, mein graurockiger Spatzenvogel, piepe dein anspruchsloses Lied und komme mir, ich rate dir gut!, nicht zum zweiten Mal ins Haus oder unter die Feder. Es möchte Dir sonst noch schlimmer ergehen als dem Spatzen, der in der Kammer des Schreibers Guntram Gastfreundschaft suchte und sie so schnöde mißbrauchte!
Carwitz, Oktober 1935
H. F.
»Hört, Landbewohner, all mir zu!«
J. F. Cooper, DER LOTSE
Vor vielen Jahren lebte in einer großen Stadt ein junger Mann, der auf der Geschäftsstube eines Ratsherrn, genannt Asio, Schreiberdienste zu verrichten hatte. Von morgens bis in den späten Abend hinein saß er an seinem Tisch, sich gegenüber einen anderen, aber älteren Schreiber, namens Bubo, und schrieb fleißig ab, was ihm sein Herr an Verträgen, Urkunden, Regressen, Akten auf den Platz gelegt. Wenn er die Hand mit der Feder zum Tintenfasse führte, begegnete sie wohl der Hand des Schreibgefährten drüben, und wenn er dann unwillkürlich den Blick hinüberrichtete, sah er das gesenkte Auge des anderen, das schon die nächste Zeile der Vorlage im voraus las, und um so emsiger kehrte er, wie ein ertappter Faulmann, zum eigenen Schreibwerk zurück. Aber wie eifrig er sich auch mühte, nie war der Berg der Aufgaben vor ihm ganz abzutragen, und meinte er den einen Abend, heute habe er es aber gut gemacht und morgen sei Arbeit ein gar rarer Artikel, so hatte den Ratsherrn über Nacht gerade das Zipperlein geplagt, und er hatte in seiner Schlaflosigkeit so vieles aus Schränken und Mappen hervorgekramt, daß am Morgen der Berg höher lag denn je. Darüber wurde das Schreiberlein fast trübsinnig, und wenn er dann gar in das ernste, graue Gesicht seines Gegenüber sah, in dessen Falten sich der Aktenstaub vieler Jahre niedergesetzt zu haben schien – wenn er sich dann so recht lebhaft vorstellte, daß er in zehn oder zwanzig Jahren auch so ernsthaft dasitzen würde, mit weiter nichts im Kopf als den Wettlauf zwischen Papierberg und Feder – so hätte er am liebsten den Hut vom Nagel gerissen und wäre hinausgelaufen in die weite Welt. Jede Straße wäre ihm recht gewesen, wenn sie nur fortführte von der papierenen Geschäftsstube. Solches zu tun aber verbot sich, denn er hatte niemanden, der für seine Nahrung und Kleidung sorgte, als sich selber. Kein Vater und keine Mutter, kein Verwandtes sah nach ihm; allein mußte er sich sein Essen kochen, allein sein Kleiderwerk flicken; und wenn er in die weite Welt hinausrannte, so wußte er doch, daß er nichts gelernt hatte wie ein bißchen Schreiberei, und die würde auf keiner Amtsstube anders aussehen als auf dieser.
Als er nun an einem recht trüben, dunklen Novembervormittag über dem Schreiben schon dann und wann nach dem Fenster schielte, vor dem die Vögel heischend lärmten – denn es war fast sein einziges Vergnügen, diese seine Freunde um die Mittagsstunde zu füttern –, hob plötzlich sein ältliches Gegenüber, der Schreiber Bubo, den Kopf, sah ihn freundlich an und sprach: »Nun, Bruder, öffne schon das Fenster und streue deinen Lieblingen ihr Brot. Auf ein paar Minuten wird es wohl nicht ankommen, so fleißig, wie wir heute waren, und der Herr Asio kommt vor zwei Stunden nicht wieder vom Bürgermeisteramt.«
Höflich, aber ein wenig verwirrt, bedankte sich der Schreiber für die ungewohnte Gunst, die ihm der andere in den mancherlei Jahren, da sie einander gegenüber saßen, noch nie gewährt hatte. Und während er das Fenster öffnete und noch immer ganz benommen den Meisen und Spatzen, Amseln und Finken und was sich an Vogelgetier immer an diesen Futterplatz gewöhnt hatte, die Brotbrocken hinstreute, hörte er den andern recht mitleidig sagen: »Oft dauerst du mich sehr, Bruder, wenn ich dich so von morgens bis in die Nacht über deiner Arbeit sehe. Ich bin ein alter Mensch, und mir macht es nichts mehr, aber um dich junges Blut ist es jammerschade!«
Da hatte der andere etwas gesagt, was der Stadtschreiber oft im Stillen bei sich gedacht, und eifrig stimmte er nun dem Gefährten zu. Was sie doch für ein gar elendes, aussichtsloses Leben führten, schlimmer noch als die Sklaven bei den Heiden, denn deren Leben sei ihren Herren doch noch eine Summe Geldes wert, während ihrer einer, kaum daß er nur ein wenig krank geworden, in Not und Elend verstoßen und auf der Stelle durch einen andern ersetzt werde.
Der andere hörte dem klagenden Geschwätz gar beifällig zu, nickte mit dem Kopf und fragte dann teilnehmend, ob der Bruder denn niemanden Verwandtes habe, der ihm mit einem freundlichen Zuspruch und einem kleinen Lustgeld für den Sonntag beispringen könnte?
»Nein«, sagte der junge Schreiber. »Von den Spatts, von denen ich mich herschreibe, bin ich der einzige, der noch lebt. – Und so muß ich denn sehen«, setzte er etwas kümmerlich lächelnd hinzu, »daß ich es so weiter treibe, wie es nun einmal läuft.«
So wisse er denn in diesem Punkte wenigstens mehr als der Bruder Spatt, sagte der alte Schreiber listig. Vor ein paar Wochen habe er die Akten in einem Grenzstreit zu bearbeiten gehabt, und der eine von den beiden Bauern, und ein schwerreicher sei es gewesen, habe Spatt geheißen.
Dem Jungen verschlug es zuerst die Rede. Dann meinte er schüchtern, es sei ja möglich, daß sein Name noch da und dorten im Lande vorkomme, aber wenn das wirklich Verwandtschaft sei, sei es so entfernte, daß sie den fremden Hungerleider leicht entbehren werde.
»Im Gegenteil!« rief der andere, und seine großen, gelblichen Augen sahen den Schreiberling recht zauberisch-eindringlich an. »Im Gegenteil!« Ob sich denn der Bruder Spatt nicht mehr entsinne, daß er vor vielen Jahren als ein kleiner Junge einen ganzen Sommer bei diesem Onkel Spatt, der sein Vatersbruder sei, zugebracht habe? Von dort habe er doch auch erst seine Vorliebe für alles Vogelgetier mitgebracht! Und er zeigte auf das Fensterbrett, wo die Vögel sich um die letzten Brocken stritten.
Dem jungen Mann wurde ganz wunderlich über dem Gerede des anderen. ›Wie kannst du von mir wissen, was ich selbst nicht weiß‹, wollte er ihm zurufen. Aber vor dem immer heller leuchtenden gelben Blick wurde es ihm anders. Dunkel regte es sich in ihm, ganz vergessenes Erinnern stieg auf: ein stattliches weißes Haus, mit Wein berankt, erhöht über der Dorfstraße gelegen, breite Steinstufen führten empor, die für das Kind zu hoch waren – der warme, heimliche Geruch eines dunkelnden Stalles – Heuhaufen, größer als ein Bett, auf denen man in jeder Richtung schlafen konnte … War es Traum, war es wirklich Erinnern?
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