Während der Zeit ihrer Krankheit waren die Brüder vom übrigen Konvent getrennt. Sie nahmen nicht an den gemeinsamen Chorgebeten teil, speisten in einem eigens für sie bestimmten Refektorium und schliefen in einem gesonderten Dormitorium. In den Rahmen der Behandlungen fiel – ebenfalls in Orientierung an der Säftelehre – der Aderlass. Nicht nur die Kranken, alle Mönche eines benediktischen oder zisterziensischen Klosters wurden zur Verfrischung der Säfte viermal im Jahr zur Ader gelassen. Die beiden Hochfeste Ostern und Weihnachten schieden aus religiösen Gründen als Aderlasstermine ebenso aus wie aus eher praktischen Erwägungen die Fasten- und Erntezeit.
… und Missbrauch
Wie in jeder größeren Gemeinschaft, waren auch die von Frömmigkeit durchdrungenen Mönche in jedem Fall von einem Missbrauch der durch den Krankenstatuts bedingten Vergünstigungen nicht gefeit. Schriftlich überlieferte Klagen aus verschiedenen Konventen über tatsächliche oder vermeintliche Simulanten in den eigenen Reihen machen dies unmissverständlich deutlich. Vor diesem Hintergrund verfügte der Abt Hugo von Semur für die cluniazensische Gemeinschaft, dass jeder Kranke seine Befindlichkeit zunächst vor der Versammlung der Mitbrüder, dem Kapitel, erklären müsse. Erst danach konnte er in den Genuss der besseren Kost und des Dispenses vom Chordienst gelangen. Die Unterschiede zu den Gesunden wurden in symbolischer Weise auch optisch deutlich gemacht. War das Einnehmen der Speise sowie das Schlafen in einem gesonderten Dormitorium von jeher mit dem Krankenstatus einhergegangen, so sollte der Patient nunmehr auch seinen Kopf stets bedeckt halten sowie einen Gehstock gebrauchen. Wer ohne fremde Hilfe wieder in der Küche arbeiten konnte, galt nach der weiterführenden Definition des Krankenstatus im Cluny des 12. Jahrhunderts als vollständig genesen.
Doch nicht allein bessere Speise, Befreiung von den Aufgaben, Bettruhe und Aderlass führten zur Genesung. Die Schätze des in jedem Kloster befindlichen Kräutergartens taten, zu Heilmitteln verarbeitet, ihren Teil, um die kranken Brüder auf den Weg der Genesung zu führen.
e) Mönchsarzt und Krankenbehandlung
Nicht von ungefähr wird der Abt im Rahmen der Benediktsregel mehrfach mit einem Arzt verglichen, der im übertragenen Sinne die Gebrechen der an ihrer Seele Kranken heilt, Uneinsichtige mit der quasi chirurgischen Maßnahme der Strafe behandelt und hoffnungslose Fälle durch den Ausschluss aus der Gemeinde gleich einem unheilbaren Gliedmaß amputiert. Die Medizin hatte nicht nur einen theoretischen Stellenwert in der Mönchsgemeinschaft. Mönchsärzte wirkten auch in der alltäglichen Praxis.
Medizin im Kloster
Dies zeigt nicht allein der wahrscheinlich bekannteste Exponent der hochmittelalterlichen Klostermedizin, der Arzt Notker aus dem Kloster Sankt Gallen. Notker war nicht nur hinter den Mauern seines Klosters tätig. Vielmehr machte er sich im 10. Jahrhundert am Hof der ottonischen Herrscher durch seine reichen Erfahrungen bei der Behandlung verschiedenster Leiden und Verletzungen einen Namen. Berühmt ist eine Anekdote geworden, die Notkers herausragende medizinische Kenntnis unterstreicht. Der bayerische Herzog Heinrich I. (gest. 955), ein Bruder Kaiser Ottos des Großen, soll dieser zufolge dem gelehrten Mönchsarzt den Urin einer schwangeren Hofdame als seinen eigenen präsentiert haben. Die Harnschau, bei der die Farbe des Urins und die erkennbaren Sedimente zeitgenössischen Vorstellungen zufolge Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand erlaubten, war während des gesamten Mittelalters eines der zentralen Diagnoseverfahren. Notker fiel nicht auf das Verwirrspiel herein. Wortgewandt prophezeite er dem Herzog die Geburt eines Kindes binnen dreißig Tagen als ein göttliches Wunder.
Nur wenige früh- und hochmittelalterliche Mönchsärzte sind namentlich bekannt. Noch seltener sind Zeugnisse ihrer heilkundlichen Leistungen, die sie nicht nur der Mönchsgemeinschaft zur Verfügung stellten. Die im Rahmen archäologischer Grabungen auf mittelalterlichen Klösterfriedhöfen zutage geförderten Skelette sprechen für einen guten medizinischen Kenntnisstand unter den Mönchsärzten, insbesondere im Bereich der Chirurgie. Unter den 526 auf dem Friedhof des dänischen Zisterzienserklosters Øm aufgedeckten menschlichen Gebeinen, die hier vor allem im 12. und 13. Jahrhundert beigesetzt wurden, fanden sich zahlreiche Spuren sorgsam ausgeführter Eingriffe. Der Schädel eines 40- bis 50-jährigen Mannes etwa weist am Stirnbein und dem vorderen Teil des Scheitelbeins eine 58 mm lange, zweifelsfrei durch eine Hiebverletzung mit einer Waffe hervorgerufene Öffnung auf. Die Gestalt der einstigen Wunde lässt erkennen, dass der Mann seine schwere Verletzung dank des im Kloster erfolgten medizinischen Eingriffes überlebte. Der schräge Abfall des oberen Knochenrandes deutet darauf hin, dass eine Meißelung aus therapeutischem Zweck stattgefunden hatte. Die Knochensplitter, die sich in die klaffende Wunde gesetzt hatten, müssen mit großen Geschick entfernt worden sein. Gleichzeitig wurden die Wundränder geglättet. Weitere Schädel weisen ähnliche Merkmale operativer Eingriffe auf. Doch auch die erfolgreiche Behandlung von Arm- und Beinbrüchen wird im Spiegel der Skelette von Øm deutlich. Doch nicht nur die Skelette selbst, sondern auch Funde mittelalterlicher medizinischer Instrumente belegen, dass in den Mauern des Zisterzienserklosters chirurgische Behandlungen durchgeführt wurden.
Noch lange nach den im 12. und 13. Jahrhundert verfügten Einschränkungen zur Ausübung der Medizin durch Mönche finden sich Belege für das heilkundliche Wirken der Brüder. So belegt beispielsweise die chronikalische Überlieferung der westfälischen Stadt Minden an der Weser, dass dort noch im ausgehenden 13. Jahrhundert ein heilkundiger Dominikaner erfolgreich die Behandlung eines langwierigen Augenleidens bei Bischof Volkwin von Schwalenberg (1276 – 1293) unternahm. Der Mindener Bischof war zeitweilig mit völliger Blindheit geschlagen und erlangte durch einen nicht beschriebenen Eingriff des Bruders Burchard seine Sehkraft zurück.
f) Natürliche Heilmittel: Der Klostergarten
Jedes Kloster verfügte über einen eigenen Klostergarten, in dem Arzneipflanzen und auch Gewürze zur Deckung des klostereigenen Bedarfs angebaut wurden. Bereits das Lorscher Arzneibuch zeigt, wie umfangreich auf der Grundlage des antiken Heilmittelschatzes aus der Natur die Kenntnisse der Mönchsärzte über die Wirkung der Pflanzen waren, die in ihren Gärten wuchsen. Der Sankt Gallener Klosterplan verrät auch die ideale Gestaltung des Klostergartens. Um ein Achsenkreuz liegen die vier- oder achteckig angelegten Beete. In den Gärten oder an deren Rand befand sich ein Brunnen für die notwendige Bewässerung der Pflanzen. Die Art und Weise, in welcher die Beete in mittelalterlichen Klöstern bepflanzt waren, lässt sich heutzutage nirgendwo mehr im Originalzustand sehen. Im Laufe der Jahrhunderte veränderte sich ebenso die Systematik der Anordnung wie der Pflanzenbestand an sich.
Pflanzenarten
Über die Pflanzen, die in den mittelalterlichen Klostergärten gezogen wurden, unterrichten jedoch so beredte Schriftzeugnisse wie das um die Mitte des 9. Jahrhunderts verfasste Lehrgedicht des Walahfrid Strabo, Abt des Klosters auf der Bodenseeinsel Reichenau. Sein Werk unter dem Namen Hortulus entstand in Anlehnung an die antiken Vorbilder Plinius des Älteren und Dioskurides. Dem Idealplan des mittelalterlichen Klostergartens zufolge wuchsen in 16 Beeten jeweils 16 unterschiedliche Gewächse, darunter Stangenbohnen und Bohnenkraut, Liebstöckel und Pfefferminze, Fenchel, Salbei und Rosmarin. Auch Zierblumen wurden in dem Garten gezogen, die als Schmuck für den Altar Verwendung fanden. Falls der Abt von der Reichenau, was wahrscheinlich ist, sein Werk nach der Gestalt seines eigenen Klostergartens ausgerichtet hatte, so wuchsen in dem Bodensee-Kloster noch Kürbisse, Melonen, Mohn, Kerbel und auch Rettich. Es steht außer Frage, dass die Mönchsärzte aus den im Kloster gedeihenden Pflanzen unter Zufügung weiterer Ingredienzien Arzneimittel etwa zur Fiebersenkung, zum Schweißtreiben oder zum Abführen herstellen konnten und dies gewiss auch taten. Betont sei in diesem Zusammenhang jedoch nachdrücklich, dass man sich aufgrund der kaum exakt zu bestimmenden Dosierung mit der inneren Verabreichung von Arzneimitteln während des gesamten Mittelalters zurückhielt. Heilkräftige Wirkung konnte sich bei falscher Dosierung unweigerlich in das Gegenteil verkehren.
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