Im Jahre 1993 bekam die Historische Anthropologie mit einer gleichnamigen Zeitschrift ihr Forum, das »die Vielfalt und Widersprüchlichkeit, mit der die Menschen sich Welt aneignen,« aufgreifen möchte. »Befindlichkeiten und Einstellungen, Interpretationen und Imaginationen, Verhaltens- und Handlungsweisen sollen in ihrem historisch-sozialen Zusammenhängen untersucht und darstellt werden«, versprachen die Herausgebenden. Zugleich wird ein Kulturbegriff definiert: »›Kultur‹ gilt nicht als Kennzeichen eines bestimmten Sektors, sondern als Medium historischer Lebenspraxis und Auseinandersetzung insgesamt.« 40 Im Umkreis der Zeitschrift entwickelte Gert Dressel eine Einführung in die Historische Anthropologie, in der er zum Schluss kommt:
»Historische Anthropologie bedeutet also auch, über den Rand der Wissenschaften hinauszuschauen. Nur so kann erklärt werden, warum denn Themen und Zugänge, die vor einigen Jahren – wenn überhaupt – noch an der wissenschaftlichen Peripherie gestanden sind, nun ins Zentrum vieler Sozial- und Geisteswissenschaften gerückt sind.« 41
Johannes Fried verband schließlich die Neue Kulturgeschichte mit der Historischen Anthropologie:
»Der Gegenstand dieser Kulturwissenschaft ist der ganze Mensch, der gesamte Bereich dessen, wie Menschen sind, wie sie leben, was sie erfahren und reflektieren, was sie je zu ihrer Zeit hervorbringen an Arbeit, Gefühlen, Ideen und Wissen, was absichtlich, unabsichtlich in Netze von Interaktionen eingespannt ist, ferner wie das alles durch nie endende, nie koordinierte, bald geplante, bald spontane Aktivitäten lebender Menschen und des Kosmos in Bewegung gehalten wird, wie es also, einschließlich der eigenen Erkenntnisinstrumente, fortwährendem Wandel ausgesetzt ist.« 42
Aus diesem geradezu chaotischen Agieren ergibt sich der Gegenstand der Historischen Anthropologie:
»Geschichte als Anthropologie blickt auf die Selbstorganisation der menschlichen Gruppen und Gesellschaften, bei der jedes Tun, jedes lenkende Ordnungsbemühen nichts weiter als eine Organisationskomponente darstellt, ohne dass ein Organisator seine Hand im Spiel hätte oder ein vorgegebener Organisationsplan vorläge.« 43
Damit schlug Johannes Fried eine Brücke zur Sozialgeschichte und erfüllte auf diese Weise eine Forderung, die Thomas Nipperdey bereits 1968 (!) aufstellte: »Die gegenwärtige Sozialgeschichte sollte in sehr viel intensiverem Maße als bisher die Fragestellungen einer historischen Anthropologie aufnehmen; dadurch würde sie neue und umfassendere Erkenntnis über ihre Gegenstände gewinnen.« 44 Konkret ging es ihm um die Untersuchung von sich wandelnden Strukturen und dem Spezifischen darin. Das Ziel sei nicht die Etablierung eines neuen Gegenstandes, sondern der Fokus auf einen neuen Aspekt, weshalb Thomas Nipperdey in einer Überarbeitung seines Ansatzes »nicht von einer historischen Anthropologie, sondern von der anthropologischen Dimension der Geschichtswissenschaft« spricht. 45
Allerdings unterscheidet sich die Historische Anthropologie in einem wesentlichen Punkt von der traditionellen Anthropologie, nämlich insofern, dass letztere
»[…] nach Grundstrukturen und Grundkategorien des menschlichen Daseins, nach generalisierbaren menschlichen Verhaltens-, Handlungs-, Denk- und Antriebsformen, nach ihrer Prägung durch soziale Institutionen fragte. Während sie stärker nach Konstanten suchte, die sowohl für existierende, wie für nicht mehr existierende Kulturen, also für alle Gesellschaften gelten und nach Typen der Daseinsgestaltung und Grundmustern der Lebensbewältigung forschte, akzentuiert die Historische Anthropologie die Dimension der Veränderung in der Zeit. Es geht nicht primär um den Aufweis konstanter Formen, sondern um den Aufweis geschichtlichen Wandels.« 46
Gerade der Widerspruch der nun kombinierten Begriffe »historisch« und »Anthropologie« bereitete der Geschichtswissenschaft Probleme. So arbeitete sich die Zeitschrift Saeculum, die von 1965 bis 1975 auch eine Weltgeschichte herausbrachte, Anfang der 1970er Jahre am Begriff Historische Anthropologie ab und publizierte mit einem 17 Mann starken Team die Überlegungen auf 118 Seiten. Hauptautor Oskar Köhler rekapitulierte den Beginn der Diskussion nüchtern: »Ob die Kombination ›Historische Anthropologie‹ nicht angesichts der Tradition beider Begriffe ein Unding sein könnte, das wagte niemand mit einem eindeutigen Ja oder Nein zu beantworten.« 47 Vorgeschlagen wurde schließlich auch im Sinne einer Weltgeschichte, ein Raster zu entwickeln, das über die Überlieferungen verschiedener Kulturen gelegt werden sollte, um den »urhumanen« Normen auf die Spur zu kommen. 48 Auf der anderen Seite schaffte es Rolf Sprandel in derselben Ausgabe der Zeitschrift, auf Anhieb eine Definition vorzulegen: »Während sich die historische Anthropologie mit dem Handeln und Denken des Menschen beschäftigt, konzentriert sich die biologische auf sein körperliches Leben.« 49
Die Historische Anthropologie hat auch ihre Tücken. Sie konzentriert sich auf so lebensnahe Themen wie Kindheit oder Alter, dass komplexe Geisteshaltungen und ihre Entwicklung – wie zum Beispiel die Scholastik – zu kurz kommen. Abseits eines biologischen Blickwinkels ist eine Abgrenzung zur Volks- und Völkerkunde noch lange nicht ausreichend gelungen. Gerade deshalb plädiert zum Beispiel Michael Mitterauer »dafür, ›Historische Anthropologie‹ auf den primären Kreis des Menschlichen zu beziehen (in Abhebung vom Kulturellen, Sozialen und Politischen), also Themen wie Körper und Sinne, Gesundheit und Krankheit, Schwangerschaft und Geburt, Sexualität, Jugend und Alter, Sterben und Tod in den Vordergrund einer ›historischen Anthropologie‹ zu stellen.« 50
Für die mittelalterliche Geschichte ergeben sich im Rahmen einer Historischen Anthropologie vielfältige Fragestellungen. Ganz oben steht natürlich der Körper, damit zusammenhängend »die Persönlichkeit des Individuums, die Mythen und Riten, die verwandtschaftlichen Strukturen, Raum und Zeit.« 51 Jean-Claude Schmitt sieht darüber hinaus im Verhältnis von Zeit und Rhythmus noch viel Potenzial, das über die hilfswissenschaftliche Chronologie hinaus geht: In der christlichen Zeitrechnung spielt der Messias als Zentralfigur eine wichtige Rolle, aber der vielfältige Rhythmus der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Individuen müsste ebenfalls berücksichtigt werden – bis hin zum Tanz. Aus einem Grundrhythmus wird schließlich ein Klang, der sich auch im rhythmischen Vortrag von Dichtung ausdrückt und so die Sphäre der Oralität bereichert, wohingegen uns heute nur banale Texte überliefert sind. 52
Als eine dritte Voraussetzung der modernen Mediävistik ist noch die Alltagsgeschichte ausführlicher vorzustellen. Sie entstand aus der Kritik an der Historischen Sozialforschung, ist wohl die revolutionärste Neuerung der modernen Geschichtsforschung und wurde sogar noch mit einem mehrdimensionalen politischen Anspruch verbunden: Die Grenzen zwischen engagierter Forschung und »einer aktivierenden Bildungs- und Kulturarbeit« sollen überwunden, die Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien aufgehoben und »die Betroffenen in den Prozeß der Aufarbeitung ihrer Geschichte und ihrer Probleme einbezogen« werden. Auf diese Art sollen jene, »die den größten Hilfestellungs- und Emanzipationsbedarf in unserer Gesellschaft haben«, erreicht werden. 53 Kritisiert wird von Hubert Ch. Ehalt, der diese Forderungen 1984 in einem Sammelband aufstellte, radikal alles, was bislang in der Geschichtswissenschaft erforscht wurde: historistische, genauso wie sozialwissenschaftliche Ansätze, gegenaufklärerische Tendenzen wie Neopositivismus und kritischer Rationalismus mit Verweis auf Karl Popper, Neobiologismus, funktionalistische Systemtheorien, wie sie Talcott Parsons und Niklas Luhmann entwarfen, französische Strukturalisten wie Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault und Neomystizismus, der die Vernunft kritisiert und Fatalismus predigt. 54 Die Publikation insgesamt, die eine der ersten zur Theorie der Alltagsgeschichte im deutschsprachigen Raum war, wollte ein österreichischer Beitrag zu einer internationale Fachdiskussion sein und ist vor allem aus dem Mikrokosmos des Wiener Austromarximus heraus zu verstehen. Dezidiertes Vorbild war Sven Lindqvist mit seinem Buch Grabe, wo du stehst, in dem er »30 verschiedene Arten, eine Arbeitstätigkeit und einen Arbeitsplatz zu untersuchen«, aufzeigt und sich damit an jene richten möchte, »die ihre eigene Arbeit erforschen wollen und die nicht Wissenschaftler von Beruf sind.« 55 Er verfasste für den österreichischen Sammelband ebenfalls einen Beitrag und erklärte, dass er auf einer Reise nach Lateinamerika inspiriert worden sei. Dort seien in Darstellungen von multinationalen Konzernen die Arbeiter nie vorgekommen. Zurück zu Hause in Schweden stellte er nach einer Analyse von Betriebspublikationen der Zementindustrie Ähnliches fest:
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