»1. Die Betriebsleitung hat nie einen Fehler gemacht. 2. Der Beitrag der Aktieninhaber zu der Zementproduktion ist viel wesentlicher als der Beitrag der Arbeiter. 3. Der Beitrag der Arbeiter zur Entwicklung der Zementindustrie ist hauptsächlich darauf beschränkt gewesen, unrealistische Forderungen zu stellen und Vorteile durch das Unternehmen zu erhalten.« 56
Die Alltagsgeschichte erreichte – und das war ja ihr Anspruch – rasch eine unglaubliche Breitenwirkung. Allerdings entfernte sie sich im Laufe der Zeit wieder von den Laien und ist heute Gegenstand der akademischen Forschung. Themen der Alltagsgeschichte wurden zwar schon von der älteren Kulturgeschichte erforscht, allerdings steht sie eher in Konkurrenz zur Volkskunde. Die Zusammenführung von Geschichte und Volkskunde bedeutet eine Dezimierung der chronologischen Perspektive von Geschichte. »Sie zwingt dazu, historische Epochen zu differenzieren und besonderes Gewicht auf die Perspektive der longue durée, der langen Dauer zu legen, auf die Zeit, die beinahe stehenbleibt.« 57 Umgekehrt musste die Volkskunde in Konfrontation mit dem Alltag in Industriegesellschaften ihren Fokus auf die vorindustrielle bäuerliche Welt aufgeben. Heimat wird neu definiert: Sie ist nun eine enge Lebenswelt abseits von idealisierter Folklore. Heimat wird großzügig entzaubert und mitunter in ihrer abschreckenden Brutalität geschildert, zum Beispiel vom österreichischen Schriftsteller Franz Innerhofer in seinem autobiographischen Roman Schöne Tage. 58
Die Erforschung von Alltagsgeschichte wurde als kommunikative Geschichtswissenschaft 59 bezeichnet, was für analytisch und theoretisch Arbeitende durchaus eine Herausforderung darstellt. »Gefordert sind dialogfähige und dialogwillige Fachleute; was das ›Volk‹ aber am allerwenigsten braucht sind volkstümelnde Historiker.« 60 Bei der nun beginnenden Alltagsgeschichte geht es nicht mehr allein um ein Hinterfragen von etablierten Geschichtskonzepten, denn daraus entsteht schließlich eine neue Dynamik.
»Vergangenheit wird zu (gedeuteter) Geschichte nicht allein durch die fachwissenschaftlichen Interpretationen; vielmehr sind diese ihrerseits Teil und Ausdruck von gesellschaftlich umstrittenen (oder akzeptierten) Produktionen von Geschichte, von Selbst- wie Fremddeutungen.« 61
Verbreitete Themen sind Arbeitsalltag und Festtag, das Privatleben selbst, die Geschichte der unteren sozialen Schichten, die von vielfältigen Phänomenen von Herrschaft, Macht und Gewalt bis hin zu Konflikten mit der Obrigkeit betroffen sind – Alltagsgeschichte »bezeichnet das bisher vernachlässigte, das aber für die Erhellung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses unentbehrlich ist.« 62 Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen dabei Kleingruppen und Individuen in ihrer sozialen Praxis. 63 Dabei handelt es sich um eine »Praxis der Vielen«, in der »sich die Menschen die Bedingungen ihres Handelns und Deutens aneignen, in denen sie Erfahrungen produzieren, Ausdrucksweisen und Sinngebungen nutzen – und ihrerseits neu akzentuieren.« 64 Viele intellektuelle Mythen über das einfache Volk sind entzaubert worden, indem der Blickwinkel umgedreht wurde. »Alltagsgeschichte beschrieb weniger eine Geschichte des Machens, der Initiativen, Pläne und Projekte, sondern eine der Folgen, des Erleidens und des Scheiterns, keine des geistreichen Gedankens und Konstruierens, sondern eine des Wahrnehmens und Reagierens.« 65 In diesem überschaubaren Bereich ist die Alltagsgeschichte der Mikrohistorie nahe. Die Mikrohistorie, die vor allem in Italien propagiert wurde und in Frankreich rasch Verbreitung fand, »ist eine Schwester der Alltagsgeschichte, geht aber in einigen Punkten ihren eigenen Weg.« 66 Sie will zwar ebenfalls die kleinen Lebenswelten darstellen, tut dies aber im Gegensatz zur Makrogeschichte. Der Vergleich einer Mikro- mit einer Makroebene ist seit der Antike ein Thema in der Wissenschaft. Traditionell geht es dabei um die Frage, wie sich das eine im anderen widerspiegelt. Das bedingt eine gegenseitige Abhängigkeit. Mikrogeschichte bedeutet demnach zum Beispiel nicht, Dörfer allgemein zu untersuchen, sondern die Untersuchung in einem konkreten Dorf vorzunehmen. Es ist eine mikroskopische Analyse mit intensivem Studium des Quellenmaterials. 67 Die kleine Welt wird beobachtet und damit die Mikrogeschichte zu einer »Wissenschaft der gelebten Erfahrung.« 68 Das bedeutet, die Geschichte bisher unbeachteter Menschen darzustellen und dabei geradezu detektivisch vorzugehen. Oft genug stehen dafür nur Gerichtsakten zur Verfügung, doch das kann zugleich so gesehen werden, »daß die Ränder der Gesellschaft mehr über sie aussagen als das Zentrum.« 69 Immerhin ist Normatives eine Wunschvorstellung.
»Die Menschen, die hier in den Vordergrund treten, sind keine Kunstfiguren, keine eindimensionalen Konstruktionen, wie sie in der Soziologie oder Ökonomie aus methodischen Zwecken erdacht werden, auch keine Wesen, die auf eine instrumentelle Rationalität oder materielle Interessen reduziert waren.« 70
Der Kern der Mikrogeschichte liegt in der Betonung des Zusammenhangs und nicht in einer isolierten Betrachtung, wie es etwa die Lokalgeschichte macht. Oft genug sind die Ausgangspunkte der Untersuchung überaus ungewöhnlich. Dabei akzeptiert die Mikrogeschichte ihre Grenzen, ja sie »geht ihren erkenntnistheoretischen Konsequenzen nach und versucht, sie in eine narrative Komponente zu verwandeln.« 71 Vor allem soll der Untersuchungsgegenstand überschaubar bleiben, womit ein erhöhter Erkenntnisgewinn verbunden wird.
»Die Mikrohistoriker haben von Anfang an den Anspruch erhoben, Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufzuwerfen und Beiträge von allgemeiner Bedeutung zu liefern. Nie haben sie die Vorstellung gehabt, in bescheidener Kleinarbeit gewissermaßen die Lücken der großen Gesamt-Darstellungen mit anschaulichem Detailmaterial füllen zu wollen oder kleinformatige Genrebilder zu verfertigen, zur Unterhaltung eines von der großen Historienmalerei ermüdeten Publikums.« 72
Als Methode wird bei Alltagsgeschichte und Mikrohistorie gerne die möglichst umfangreiche Dichte Beschreibung verwendet. Diesen Begriff etablierte der Ethnologe Clifford Geertz, der sich dabei an den Philosophen Gilbert Ryle anlehnte. Dieser hatte die Frage der richtigen Interpretation einer Geste aufgeworfen. Clifford Geertz als Ethnologe bezweifelt daraufhin die Möglichkeit einer objektiven ethnologischen Beschreibung. »Kurz, ethnologische Schriften sind selbst Interpretationen und obendrein solcher zweiter und dritter Ordnung.« 73
Die Alltagsgeschichte stand schnell unter heftigster Kritik vonseiten der Historischen Sozialwissenschaft. Hans-Ulrich Wehler gab zu bedenken, die Alltagsgeschichte könne »Geschichten aus dem Alltag erzählen, aber nicht die Geschichte des deutschen Alltags etwa von 1870 bis 1970 schreiben.« 74 Jürgen Kocka bezeichnet Alltagsgeschichte sogar als »Theoriefeindlichkeit von links.« 75 Die Beispiele seien weder repräsentativ noch liefern sie einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, außerdem stehen subjektive Faktoren – wie Gefühle oder Bewusstsein – im Vordergrund und schließlich seien die Studien nur erzählend und beschreibend, also nicht analysierend. Zusammengefasst sehen die einen darin »die magische Zauberformel, Geschichtsbewußtsein und Geschichtsbegeisterung neu zu wecken; die anderen belächeln sie als faulen Zaubertrick, um von Wichtigerem abzulenken und sich größere intellektuelle Anstrengungen zu ersparen.« 76 Die an der Politik orientierte Geschichtswissenschaft konnte mit Alltagsgeschichte ohnehin nichts anfangen und ignorierte sie weitgehend.
Das Beschreiben von Lebensumständen, wie es die Alltagsgeschichte vertritt, erzeugt schlussendlich eine neue Erfahrung von Geschichte. In diesem Bestreben will aber die Alltagsgeschichte keineswegs andere Ansätze verdrängen – nicht einmal die klassische politische Geschichte oder die Historische Sozialwissenschaft. »Alle diese Geschichten berühren und überschneiden sich vielfach, keine von ihnen kann den Anspruch durchsetzen, Integrationswissenschaft zu sein, alle sind Aspektwissenschaften.« 77
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