Dann fallen dir plötzlich sein verbeultes Fahrrad und seine verdreckte Hose auf. Du läufst ihm entgegen und siehst schon aus der Distanz, dass es ihm gar nicht gut geht. Er erzählt, er hatte gerade einen ziemlich gefährlichen Fahrradunfall, ein Auto hatte ihm die Vorfahrt genommen und er war nach einer Vollbremsung vornüber gestürzt. Der Autofahrer sei einfach davongefahren. Als du das hörst, nimmst du deinen Freund in die Arme und bist heilfroh, dass es ihm halbwegs gut geht. Du schämst dich für die Gefühle von eben, und deine innere Stimme wendet sich nun gegen dich selbst: »Ein Glück, dass ihm nichts passiert ist. … Wie konntest du nur so schlecht über ihn denken? … Er wäre beinahe im Krankenhaus gelandet, was bist du nur für ein Freund?« Aus Ärger ist blitzschnell Scham geworden, weil sich die inneren Gedanken und Bewertungsprozesse verändert haben.
So weit eine beliebige Alltagssituation, von denen wir tagtäglich ähnliche erleben. Sie zeigt uns: Abhängig davon, wie wir ein Ereignis oder ein Verhalten bewerten, also was wir denken, reagieren wir auf dieselbe Situation mit völlig anderen Gefühlen und Empfindungen. Oft werden unsere Gefühle direkt durch unsere Gedanken ausgelöst, wie in diesem Beispiel. Wenn ich annehme, jemand lässt mich mit Absicht oder aus Unachtsamkeit warten, werde ich sauer. Wenn wir befürchten, dass uns Gefahr droht, bekommen wir Angst. Wenn wir uns zurückgewiesen fühlen, werden wir traurig. Weil der zeitliche Abstand zwischen unseren Gedanken und Gefühlen vielfach sehr kurz ist, haben wir subjektiv den Eindruck, unser Gefühl sei eine unmittelbare Reaktion auf die äußere Situation. Doch eigentlich aktiviert eine äußere Situation in uns einen Bewertungs- und Einordnungsprozess, und je nachdem, wie wir das Ereignis beurteilen, reagieren wir mit unterschiedlichen Gefühlen.
Vielleicht willst du jetzt einwenden, dass Gefühle manchmal aber auch unglaublich schnell entstehen und dabei kein kognitiver Verarbeitungsprozess stattfinden kann – und das stimmt. Wenn es jetzt plötzlich in deiner Umgebung einen lauten Knall gibt, dann schießt sofort Adrenalin in deinen Blutkreislauf und du drehst dich blitzschnell in jene Richtung, aus der der Knall kommt. Für Angstgedanken ist bis dahin noch gar keine Zeit, denn dein Körper reagiert autonom, also ohne dein bewusstes Zutun. In deinem Gehirn übernehmen, ähnlich wie bei Tieren, die in der Evolution früh entstandenen Hirnareale die Kontrolle über deine Handlungen und Entscheidungen, denn ein kognitiver Bewertungsprozess würde in einer akuten Gefahrensituation viel zu lange dauern. Doch direkt nach der unmittelbaren Reaktion setzt wieder ein Bewertungsprozess ein, und je nachdem, wie der ausfällt, entwickelt sich die emotionale Reaktion. Wenn du zu dem Ergebnis kommst: »Der Lärm kommt von der Baustelle nebenan, kein Grund zur Sorge!« , dann wird die körperliche Alarmreaktion wieder abgeblasen und du sagst dir erleichtert: »Hab ich mich erschreckt!« Die erste Reaktion ist jedoch kein Gefühl, sondern eine autonom ablaufende Körperreaktion, die wir für ein Gefühl halten.
In der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie gibt es den Ausspruch: »Du bist nicht dein Gefühl, sondern du hast ein Gefühl.« Gemeint ist damit, dass wir im Alltag oft vollkommen mit unseren Gefühlen identifiziert sind, ähnlich wie mit unseren Gedanken. Wir haben normalerweise weder Abstand zu unseren Gedanken noch zu unseren Gefühlen. Wir lösen uns dann quasi in einem Gefühl auf und bestehen nur noch aus Angst, Ärger, Traurigkeit oder was auch immer. Eindrücklich erleben wir das, wenn wir frisch verliebt sind: Wir sind Feuer und Flamme für den anderen, denken Tag und Nacht an ihn oder sie, halten ihn für den schönsten Menschen auf der Welt und glauben, dass wir mit ihm oder ihr endlich das ewige Glück gefunden haben. Ewig in den Armen des anderen liegen, was könnte es Schöneres geben? Wir haben kein Gefühl des Verliebtseins, sondern wir gehen vollkommen darin auf.
Natürlich dürfen wir dieses schöne Gefühl ruhig in vollen Zügen auskosten. Wenn wir aber in unserem Alltag zu oft mit unseren Gefühlen völlig identifiziert sind, dann wird unser Leben anstrengend und leidvoll. Auch das kennen wir alle, wenn wir nämlich zu unseren unangenehmen Gefühlen keinerlei Abstand mehr haben. Wer ganz und gar in seine Traurigkeit versinkt, wird sich womöglich im Bett verstecken und keinen Sinn mehr im Leben sehen. Im Extremfall wird er sogar darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, denn es ist für ihn nicht vorstellbar, dass sich das Gefühl jemals wieder auflösen könnte. Es ist, als hätten wir mitten im Winter vergessen, dass bald wieder der Frühling kommt. Wer nur noch Wut ist , kann bei sich selbst und bei anderen viel Schaden anrichten. Wer nur noch Angst ist, traut sich nichts mehr zu. Es geht darum, uns nicht in einem Gefühl zu verlieren, sondern unser Gefühl als das zu erleben, was es ist: eine tiefe Empfindung, die wieder vergeht und der ein anderes Gefühl folgen wird.
Ganz ähnlich, wie wir Lieblingsgedanken haben, haben wir übrigens auch Lieblingsgefühle. Die meisten unserer Gefühle sind nicht einfach eine Reaktion auf die äußere Situation, sondern wir haben sie gelernt, sie sind konditioniert und seit der Kindheit immer wieder verfestigt worden. Meistens waren es unsere Eltern oder andere enge Bezugspersonen, von denen wir unsere typischen Gefühlsreaktionen übernommen haben. Wer eine ängstliche Mutter hatte, reagiert im späteren Leben selbst schnell mit Angst. Wer einen jähzornigen Vater hatte, hat sich vielleicht selbst schon bei einem plötzlichen Wutausbruch ertappt. Dies ist noch ein Grund mehr, auch Gefühle beobachten zu lernen und sich nicht von ihnen überrollen zu lassen. Wem nützt es, wenn wir in Gefühlen gefangen sind, die eigentlich gar nicht uns »gehören«, sondern die von anderen Personen kopiert sind?
Wer entscheidet eigentlich, was ich tue? Die übliche Antwort ist klar: »Natürlich ich!« Wir erleben uns als freie Individuen, die eigenständig darüber bestimmen, wie wir uns verhalten, was uns gefällt, wen wir mögen oder womit wir uns beschäftigen. Angeblich kann ich frei entscheiden, ob ich noch eine Zigarette rauche oder nicht, ob ich in meiner Wut den anderen beleidige oder wie ich mit Verletzungen oder Enttäuschungen umgehe. Wenn wir uns selbst aber ein bisschen genauer beobachten, dann stellen wir fest, dass die meisten unserer Alltagshandlungen nicht auf Entscheidungen beruhen, sondern unbewusst und automatisiert ablaufen. Jeder Raucher weiß, wie mechanisch er zur Zigarette greift. Wir essen noch einen Schokoriegel, nicht weil sie uns so gut tut, sondern weil wir einem inneren Programm folgen und nicht einmal merken, wie wir uns schon wieder ein Stück Schokolade in den Mund schieben. Erst beim letzten Stück fällt uns dann auf: »Jetzt hab ich ja die ganze Tafel gegessen, eigentlich wollte ich doch nur …«
Wenn wir uns ganz genau beobachten, stellen wir sogar fest, dass nicht nur einige, sondern fast alle unsere Handlungen automatisch ablaufen. Das gilt zunächst einmal für unsere Bewegungen und Alltagshandlungen, etwa wenn wir in einen Apfel beißen oder an den Fingernägeln kauen. Richte deine Aufmerksamkeit für einen Augenblick auf dich selbst: Was tust du sonst noch, während deine Augen auf das Papier schauen? Was läuft neben deiner Haupttätigkeit ganz automatisch und unbewusst ab? Wackelst du vielleicht mit deinem Fuß? Ziehst du deine Schultern hoch? Fährst du mit der Hand durch die Haare?
Alle diese Bewegungen laufen ohne unser bewusstes Zutun ab, wir entscheiden uns nicht dafür, sondern sie werden getan . Aber auch komplexere Verhaltensweisen laufen oft unbewusst ab, etwa wie ich reagiere, wenn im Auto vor mir ein Sonntagsfahrer mit 50 km/h über die Landstraße schleicht. Auch in unseren Lebenszielen folgen wir oft Automatismen und Gewohnheiten. Wir werden beispielsweise innerlich angetrieben, viel zu leisten, Besitz anzuhäufen oder anderen zu gefallen. Eventuell stellen wir unser ganzes Leben in den Dienst eines solchen »Auftrags«.
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