Ich erzähle hier vom Grübeln, weil es ein sehr gutes Beispiel ist, um die Sinnlosigkeit zu verdeutlichen, die unser Denken manchmal auszeichnet. Außerdem zeigt uns das Grübeln, dass nicht wir es sind, die entscheiden, wann und was wir denken. Meist drängt sich dieses Denken auf und wir geraten unfreiwillig, ja fast schon zwanghaft in Grübeleien, wie bei einem starken Sog, den wir meist kaum bemerken und dem wir uns nicht entziehen können. Nicht wir grübeln, sondern es grübelt uns oder es grübelt in uns. Versuche, sich von unserer Endlosschleife aus Gedanken zu lösen, scheitern meist oder sind nur für kurze Zeit erfolgreich. Vielleicht ist die deutliche Zunahme von Depressionen in den letzten Jahrzehnten auch Folge eines zu aktiven Geistes. Wenn unser Denken ohnehin schon zu aktiv ist und dann auch noch die Aktienkurse abstürzen, um beim Beispiel von Alex zu bleiben, dann sind unsere quälenden Gedanken einfach nicht mehr zu bändigen.
Während der Arbeit an diesem Buch schlich sich eines Abends bei mir ein Ohrwurm ein: »Die Gedanken sind frei, kein Mensch kann sie wissen«, ein Flugblattlied aus der Zeit der Französischen Revolution, das ich als Jugendlicher am Lagerfeuer oft gesungen hatte. Was ich auch unternahm, ich wurde diese Textzeile einfach nicht los. Schließlich schlief ich spät in der Nacht endlich ein, doch am nächsten Morgen ging es gleich wieder los: »Die Gedanken sind frei …«
Dabei waren meine Gedanken offensichtlich alles andere als frei. Von Gedanken fast schon verfolgt zu werden, hat sicher jeder von uns schon öfter erlebt. Wir alle wissen: Es hat keinen Sinn, immer und immer wieder darüber nachzudenken, wie das Vorstellungsgespräch wohl laufen wird, ob die Frau, in die ich mich frisch verliebt habe, mich auch so toll findet wie ich sie oder warum ich neulich so blöd war und diesen kleinen Unfall verursacht habe. Das Nachdenken darüber ist oft zwecklos, doch es hört einfach nicht auf. Wie eine CD, die sich aufgehängt hat, hören wir immer wieder dieselben Gedanken in einer Endlosschleife: »Warum hast du nicht besser aufgepasst? … Hättest du eine Sekunde eher gebremst, dann wär jetzt alles gut, so blöd kannst doch nur du sein. … Jetzt stuft die Versicherung dich höher, dabei ist dein Konto gerade sowieso schon leer …« Oft hören wir von Freunden dann die Empfehlung: »Denk einfach nicht mehr drüber nach!«, doch einen unsinnigeren Tipp gibt es nicht. Könnten wir unsere Gedanken wirklich anhalten, hätten wir es natürlich längst getan! Der gut gemeinte Tipp führt nur dazu, dass wir uns noch schlechter fühlen als ohnehin schon.
Wir können nicht selbst entscheiden, wann wir denken, und genauso wenig können wir selbst entscheiden, was wir denken. Auch da macht unser innerer Computer, was er will. Besonders aufdringlich sind Gedanken, die gemeinsam mit starken und rasch einsetzenden Gefühlen auftreten, beispielsweise mit Scham, Ärger oder Angst. Jeder kennt Situationen, in denen er sich in Grund und Boden geschämt hat und sich auch nachträglich noch schämt. Neulich erzählte mir ein Freund eine beschämende Situation aus seiner Kindheit. Er war in der vierten Klasse während des Unterrichts auf die Toilette gegangen. Als er die Toilette wieder verlassen wollte, klemmte die Tür und er war eingesperrt, bis er nach lautem Schreien endlich befreit wurde. Mit hochrotem und gesenktem Kopf kehrte er schließlich in die Klasse zurück, und zwar in Begleitung des Hausmeisters, der der Lehrerin und den Mitschülern erzählte, was vorgefallen war. Das Gelächter war natürlich vorprogrammiert. Damals konnte er wochenlang an nichts anderes mehr denken. Nächtelang träumte er davon und schließlich wurde er sogar krank. Er erzählte, noch heute sei ihm jedes Mal mulmig, wenn er eine öffentliche Toilettentür abschließe.
Wir alle haben ähnliche Situationen erlebt, die peinlich und unangenehm waren und uns lange gequält und beschäftigt haben. Welche Situation fällt dir aus deiner eigenen Lebensgeschichte ein? Kommt dir eine Situation aus deiner Kindheit und Jugend in den Sinn oder ein Ereignis, das in letzter Zeit passiert ist?
Die Macht unserer Gedanken
Mit meinen Klientinnen und Klienten mache ich oft eine kleine Übung, die uns die Macht unserer Gedanken verdeutlicht: Bitte stell dir vor, dass vor dir eine in Scheiben geschnittene Zitrone liegt. Zuerst schaust du dir die Zitronenscheiben einfach nur an, dann nimmst du eine in die Hand und riechst daran. Der säuerliche Geruch steigt in deine Nase und … Meistens kann ich schon hier die Übung beenden, denn fast allen läuft allein bei dieser Vorstellung der Speichel im Mund zusammen. Wenn nicht, erzähle ich weiter, wie wir die Zitronenscheibe langsam zum Mund führen, den Mund öffnen und mit unserer Zunge die saftige Zitronenscheibe berühren. Spätestens hier ist es dann um uns geschehen!
Diese einfache Übung zeigt uns die Macht unserer Vorstellungen und Gedanken. Wir brauchen uns »nur« etwas vorzustellen und unser Organismus reagiert genauso, als wäre die Situation real. Er kann nicht unterscheiden, ob es sich um eine Vorstellung in unserem Kopf oder um die Realität handelt. Es hilft überhaupt nichts, uns klarzumachen, dass wir ja nur an eine Zitrone denken. Wir können uns noch so oft sagen: »Das ist nur ein Gedanke«, es läuft uns trotzdem das Wasser im Mund zusammen.
Die Werbeindustrie hat sich dieses Prinzip zunutze gemacht. Sehe ich nur oft genug die glückliche Rama-Familie am Frühstückstisch im Garten, dann kaufe ich irgendwann diese Margarinesorte. Natürlich weiß ich: Es ist ja nur Werbung, die wollen mir was verkaufen, die Leute in dem Werbespot sind gar nicht wirklich glücklich, sondern es sind Schauspieler, die nur so tun als ob. Und trotzdem greife ich irgendwann im Supermarkt zur Rama-Packung, denn ein Teil von mir glaubt: »Mit Rama bin ich ein glücklicherer Mensch!«
Gedanken können zwar keine Berge versetzen, wie immer behauptet wird, aber sie verändern tatsächlich unsere Wirklichkeit. Sie nehmen Einfluss auf unsere Körperempfindungen, auf unsere Gefühle und auf unser Verhalten, also sogar darauf, was uns in der Außenwelt begegnet. Die Macht unserer Gedanken erleben wir täglich viele Male, wir nehmen ihren Einfluss jedoch nur selten bewusst wahr. Zum Beispiel können wir durch unsere Gedanken Gefühle hervorrufen. »Ich werd schon sauer, wenn ich nur dran denke«, meinte neulich eine Freundin zu mir, die sich darüber ärgerte, dass ihr neuer Freund sie zur Hausarbeit und zum Badputzen verdonnern wollte.
Du kannst nun ausprobieren, welche Auswirkungen deine Gedanken auf deine Gefühle und Empfindungen haben. Du brauchst dir dafür nur eine Situation vorzustellen, in der du dich so richtig geärgert hast. Versuch dir die Situation möglichst detailliert vorzustellen: Was ist genau passiert? Wer oder was hat dich geärgert? Höchstwahrscheinlich gerätst du durch die bloße Erinnerung an die Situation und das Nachdenken darüber wieder in das Gefühl von Ärger hinein, das du damals erlebt hast.
Natürlich können wir diesen Einfluss unserer Gedanken auch positiv nutzen, indem wir an angenehme Ereignisse denken. In vielen Entspannungsverfahren werden die Teilnehmenden gebeten, sich eine Blumenwiese oder einen anderen für sie schönen Ort vorzustellen. Und tatsächlich ändert sich durch das bloße Vorstellungsbild unser Anspannungsniveau. Die Muskeln lösen, das Gesicht glättet sich und unser Atem wird tiefer. Eine Zeit lang haben meine Frau und ich am Abendbrottisch ein sehr schönes Ritual praktiziert. Wir haben uns gegenseitig die einfache Frage gestellt: »Wann ging es dir heute gut?« Statt meiner Frau also zu erzählen, was heute nicht so gut geklappt hatte, erzählte ich ihr von den schönen Augenblicken des Tages, dem bunten Herbstlaub in den Gärten, der witzigen Begegnung mit dem Nachbarn oder einem erfreulichen Telefonat. Uns ging es natürlich viel besser, wenn wir uns von all dem Schönen erzählten, als wenn wir über Probleme gesprochen hätten. Die Arbeit an diesem Buch hat uns dazu bewogen, dieses Ritual wieder aufzunehmen. Wie konnten wir es zwischendurch nur wieder vergessen?
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