Kapitel 9
Samstag, 13. September 2014; 08:05 Uhr
Der typische Geruch von Formaldehyd und Desinfektionsmitteln strömte durch den Sektionssaal. Heidrun Hartenbach war für einen Kollegen eingesprungen und hatte ihren Bereitschaftsdienst um einen Tag verlängert, sodass sie an diesem Samstagmorgen die angeordnete Obduktion leiten musste. Sie überprüfte das Diktiergerät und legte es anschließend griffbereit zur Seite. Vor ihr auf dem Tisch lag eine Studentin, etwa im gleichen Alter wie ihre Nichte. Sie musste sich eingestehen, dass ihr diese Obduktion heftig an die Nieren ging, dennoch riss sie sich zusammen, um ihre Professionalität zu bewahren.
Sie informierte kurz die anwesenden Personen über die wichtigsten Eckdaten. »Wir haben hier eine junge Studentin, dreiundzwanzig Jahre. Sie wurde von ihrer Mitbewohnerin tot in der gemeinsamen Wohnung aufgefunden. Laut dieser klagte die Person am Nachmittag vor ihrem Auffinden über Fieber, Übelkeit und Bauchschmerzen. Am Fundort gab es keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung, eine relevante Vorerkrankung ist nicht bekannt.«
Der zweite anwesende Rechtsmediziner und die drei Medizinstudenten hörten aufmerksam zu, während die beiden Sektionsassistenten alle nötigen Instrumente für die Obduktion bereitlegten. Am Nebentisch stand ein weiteres Team vertieft in seine Arbeit. Die anderen beiden Tische in dem großzügigen, hell beleuchteten Sektionssaal waren leer. Das rechtsmedizinische Team von Heidrun Hartenbach hatte die Aufgabe, zu klären, ob es sich im vorliegenden Fall um eine natürliche oder nicht natürliche Todesursache handelte. Seitens der Ermittlungsbehörden gab es bisher keine Anzeichen für Mord oder Suizid, sodass ein Unfalltod oder eine natürliche Todesursache am wahrscheinlichsten schien. Heidrun durfte jedoch nicht voreingenommen an die Obduktion herangehen, würde dies doch ihr Urteilsvermögen als Rechtsmedizinerin beeinflussen. Sie wusste, dass sie immer alle Möglichkeiten in Betracht ziehen musste.
»Dann lassen Sie uns beginnen.« Sie schaltete das Aufnahmegerät ein und diktierte das aktuelle Datum, die anwesenden Personen und die Protokollnummer. Normalerweise würden die Ärzte damit beginnen, die Bekleidungssituation des Leichnams zu beurteilen. Bei Gewaltverbrechen können hier erste Hinweise zu sehen sein, wie beispielsweise eine nicht richtig zugeknöpfte Bluse.
Da die Studentin allerdings nackt in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, konnte das Team mit der äußeren Leichenschau beginnen. Heidrun sprach in das Diktiergerät. »Weibliche Person, dreiundzwanzig Jahre, keine offensichtlichen äußeren Verletzungen, die seitlichen Totenflecke sind wegdrückbar.«
Es folgte eine eingehende Untersuchung des gesamten Körpers, angefangen beim Kopf bis hin zu den Füßen. Sie begutachteten aufmerksam jeden Quadratzentimeter der Leiche. Die äußere Leichenschau brachte keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, auch fanden sich keine Einstichspuren, die auf eine Überdosis Drogen hindeuteten. Lediglich am Kopf des Leichnams fand Heidrun ein größeres Hämatom als Ergebnis von stumpfer Gewalteinwirkung. Vermutlich entstand diese Verletzung jedoch, als die Studentin mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug.
Somit konnte das Team übergehen zur inneren Leichenschau. Heidrun griff nach einem der bereitgelegten Skalpelle und setzte an der rechten Schulter an. Sie führte es sicher und schnell schräg nach unten und stoppte oberhalb des Brustbeins. Ein weiterer Schnitt erfolgte von der linken Schulter aus und anschließend vollendete sie den Y-Schnitt, indem sie das Skalpell vom Brustbein hinunter zum Becken führte. Gemeinsam mit dem zweiten Arzt klappte sie die Hautpartien und das darunter liegende Unterhautfettgewebe auseinander, während die beiden Sektionsassistenten die Kopfhaut aufschnitten.
Heidrun schaute kurz von ihrer Arbeit auf und sah die Medizinstudenten an. »Gibt es bis hierhin Fragen?« Die drei Studenten schüttelten synchron mit dem Kopf. Keiner von ihnen hatte auch nur ein Wort gesprochen, seit der Leichnam entkleidet vor ihnen lag. Dies war ihre erste Sektion. Heidrun bemerkte, dass sich einem der drei Studenten offensichtlich der Magen umdrehte. Er war ganz blass geworden und sichtlich bemüht durch den Mund zu atmen. »Ist Ihnen nicht gut?«, wandte sie sich an ihn.
»Kein Problem, ich bin o.k.« Der Student wollte sich vermutlich nicht die Blöße geben, vor seinen beiden Kommilitoninnen schlappzumachen.
»Falls Sie sich übergeben müssen, tun Sie das bitte nicht in meinem Sektionssaal.« Der Student nickte stumm und Heidrun griff nach der Rippenschere. Mit routinierten Handgriffen durchtrennte sie die Rippen. Anschließend wurden sowohl die Rippen als auch das Brustbein aus dem Körper entfernt. Die beiden Ärzte beugten sich über den geöffneten Leichnam, um die inneren Organe in Augenschein zu nehmen. Die drei Medizinstudenten jedoch hielten einen respektvollen Abstand und kritzelten emsig auf ihren Schreibblöcken herum.
»Als Nächstes müssen alle inneren Organe auf mögliche Erkrankungen und Gewalteinwirkungen untersucht werden«, erklärte Heidrun den drei Medizinstudenten und trat an das Kopfende des Leichnams. Sie fasste in den, von den Assistenten bereits durchgeführten, Schnitt und klappte die Kopfschwarte nach hinten, um sich dessen Innenseite genau anzuschauen. Anschließend öffnete sie mithilfe der Oszillationssäge den Schädel und hob vorsichtig die Schädeldecke ab. Wie bereits vermutet, fand sie unterhalb des Hämatoms eine Subarachnoidalblutung, die vom Sturz des Opfers herrührte. Theoretisch könnte das Opfer auch mit einem stumpfen Gegenstand einen Schlag auf den Kopf bekommen haben, jedoch war die Blutung zu klein und auf keinen Fall todesursächlich. In diesem Fall müsste außerdem der Schädelknochen eine Impressionsfraktur aufweisen, was er nicht tat.
Heidrun entnahm das Gehirn, wog es und legte es auf dem Organtisch ab. In gleicher Weise ging sie nach und nach mit allen anderen Organen vor, und untersuchte sie sorgfältig gemeinsam mit ihrem Kollegen. Irgendwelche Vorerkrankungen konnten sie dabei nicht feststellen.
Aus ihren Augenwinkeln konnte Heidrun sehen, wie der tapfere Student ins Wanken geriet und schließlich ohnmächtig zu Boden ging. Das war nichts Ungewöhnliches in der Rechtsmedizin.
»Kümmern Sie sich bitte um ihren Kommilitonen und bringen ihn hier raus, danach dürfen Sie wiederkommen«, sagte Heidrun an die zwei Studentinnen gewandt. Ohne weiter auf den am Boden liegenden Mann zu achten, begannen Heidrun und ihr Kollege Blut- und Gewebeproben für die Toxikologie zu entnehmen. Im Labor würde dann der Verdacht auf eine Drogenüberdosis bestätigt oder ausgeschlossen werden können. Systematisch entnahm Heidrun Proben des Gehirns, des Herzens und der Lunge, der Leber, Niere und Milz sowie der Bauchspeicheldrüse. Außerdem füllte sie Blut aus verschiedenen peripheren Gefäßen, Urin und den Mageninhalt der jungen Toten ab. Abschließend stach sie mit einer langen Kanüle in einen Augapfel, um etwas der Glaskörperflüssigkeit aufzuziehen.
»Was meinen Sie, Herr Kollege?«, fragte sie den zweiten anwesenden Rechtsmediziner.
»Die hämorrhagische Gastroenteritis scheint akut gewesen zu sein. Es deutet nichts darauf hin, dass die Magenschleimhaut des Leichnams regelmäßig entzündet war.«
»Das sehe ich auch so. Die Frau scheint an einem multiplen Organversagen ohne jegliche Vorerkrankung gestorben zu sein.« Heidrun rieb sich die Schläfen. »Fest steht, die Leber und die Nieren haben akut versagt und schließlich trat der Tod durch eine Lähmung des Atemzentrums ein. Sieht für mich nach einer Vergiftung aus. Mir fallen auf Anhieb einige Bakterientoxine dazu ein.«
»Bleibt abzuwarten, was die Toxikologie findet. Ein sehr ungewöhnlicher Fall.«
Heidrun zog ihre Stirn kraus und nickte ihrem Kollegen bestätigend zu.
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