Während die Wanne sich langsam mit heißem Wasser füllte, ging Konstanze über die Wendeltreppe nach unten in ihre Küche. Sie streckte sich und nahm ein Weinglas aus dem Hängeschrank. Dann durchsuchte sie jede Schublade nach dem Korkenzieher, fand ihn jedoch nicht. Verflixt. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und entdeckte ihn hinter der Dose Gummibärchen. Nachdem der Korken aus der Flasche billigen Rotweins entfernt war, ging sie mit dem Glas und dem Wein zurück ins Badezimmer.
Zarte Schwaden des weißen Dampfes, durchmischt mit dem Duft des Lavendels kamen ihr entgegen. Die Badewanne war inzwischen voll. Sie goss sich den Wein ein, trank einen großen Schluck und füllte das Glas erneut auf. Sie stellte es nebst der Flasche auf dem breiten Rand der Wanne ab und glitt aus ihrem Nachthemd. Fein säuberlich zusammengefaltet legte sie es auf dem Toilettendeckel ab und stieg mit einem Bein in das Wasser. Sie zuckte kurz zurück, denn im ersten Moment schien es viel zu heiß zu sein, doch schnell durchflutete ein wohliger Schauer ihren Körper. Sie zog das andere Bein hinterher und glitt langsam und genüsslich ins Badewasser. Ein Gefühl von absoluter Geborgenheit hüllte sie ein. Mit ihrem rechten Fuß drehte sie geschickt den Hahn zu. Behagliche Stille legte sich über den Raum wie eine dicke, warme Decke. Nur das leise Knistern des Badeschaums, dessen winzige Bläschen nacheinander zerfielen, war noch zu hören. Merlin war in der Zwischenzeit ebenfalls ins Badezimmer gekommen und rollte sich nun auf dem flauschigen Teppich vor der Badewanne zusammen. Der Rotwein und die Wärme des Wassers zeigten ihre Wirkung und benebelten Konstanzes Sinne. Sie entspannte sich und die Bilder des Albtraums zerplatzten wie schillernde Seifenblasen.
Kapitel 4
Montag, 8. September 2014; 21:35 Uhr
Geschwächt und an zahlreichen Schläuchen und Kabeln hängend lag Karl Schuster in seinem Krankenhausbett der Intensivstation und schaute zum Fenster hinaus. Er konnte draußen nichts mehr erkennen. Die Dämmerungsstunde war vorüber und die Finsternis der Nacht legte sich wie ein schwerer Teppich über die Stadt. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe und fanden sich zu kleinen Rinnsalen zusammen. In der Luft lag der typische Krankenhausgeruch von Desinfektionsspray und gestärkter Baumwollbettwäsche gepaart mit einem Hauch Pfefferminztee, der überall in den Gängen für Patienten und Besucher zur Verfügung stand. Sicherheitshalber hatte man ihn in einem Extrazimmer, isoliert von den anderen Patienten, untergebracht. Es würde noch dauern, bis die Testergebnisse vorlagen.
»Sobald wir das Norovirus ausschließen können, bekommen sie auch Gesellschaft, Herr Schuster«, erklärte ihm eine Krankenschwester, während sie prüfend auf die Überwachungsmonitore schaute. Karl legte gar keinen Wert mehr auf Gesellschaft. Er fühlte sich elend, entkräftet, nicht mal in der Lage noch seinen Kopf zu heben.
»Möchten Sie noch ein zweites Kopfkissen, damit Sie ein bisschen höher liegen?«
»Nein«, flüsterte er, begleitet von einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung. Die Schwester nahm ein Wattestäbchen, tauchte es in einen Becher mit Wasser und befeuchtete Karls rissige Lippen. »Das tut gut, nicht wahr Herr Schuster?« Er nickte schwach und schloss die Augen.
»Ich schaue gleich noch mal nach Ihnen.« Mit diesen Worten huschte die adrette Krankenschwester wieder durch die Zimmertür.
Auf Karls Stirn hatten sich winzige Schweißperlen gebildet, die nach und nach dem Gesetz der Schwerkraft folgten und im Kissen verschwanden. Karl wollte sich so gern am Kopf kratzen, aber es gelang ihm nicht mehr, seinen bleischweren Arm zu heben. Im Handrücken des anderen steckte eine Infusionsnadel. Gedankenverloren blickte er auf den dazugehörigen Infusionsbeutel über dem Bett. Er bekam Kochsalzlösung, um die massive Dehydrierung auszugleichen. Trotzdem fühlte sich sein Mund schrecklich trocken an, die Lippen waren bereits aufgesprungen und brannten. Er sehnte sich nach dem getränkten Wattestäbchen von vorhin, nach ein wenig wohltuender Feuchtigkeit auf seinen spröden Lippen.
Kurz darauf kam die dunkelhaarige Schwester erneut schwungvoll zur Tür herein und trat neben das Bett von Karl.
»Na Herr Schuster, wie geht es Ihnen? Ich messe jetzt ihren Blutdruck und ihre Temperatur und nehme mir noch etwas Blut von Ihnen. Sie können doch sicher darauf verzichten«, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht.
Er konnte seinen Mund nicht mehr bewegen und nickte daher kaum merklich. Wie durch einen Schleier sah er, wie die weißgekleidete Frau das Ergebnis des Fieberthermometers ablas und besorgt mit dem Kopf schüttelte. Während sie hektisch auf den Klingelknopf über dem Bett drückte, versank Karl tiefer und tiefer in einen schwerelosen Dämmerzustand.
Kapitel 5
Mittwoch, 10. September 2014; 14:45 Uhr
Seit dem Mord an Sabrinas Mutter hatte Konstanze nur kurz am Telefon mit ihrer Freundin gesprochen. Jetzt stand sie, mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, vor deren Appartement und klingelte. Was sollte sie sagen?
Die Tür öffnete sich schwungvoll und Sabrina lächelte sie an. Ihr langes schwarzes Haar fiel in sanften Wellen auf ihre Schultern und bildete einen perfekten Rahmen für ihr engelsgleiches Gesicht. Mit der Stupsnase, den frechen Sommersprossen und den sinnlichen Lippen wirkte sie wie ein süßes Mädchen.
Umwerfend und sexy wie immer, dachte Konstanze.
»Hi, komm rein. Möchtest du ein paar Hausschuhe haben?«
»Ja, danke. Ich bin völlig durchnässt.« Konstanze schälte sich aus ihrer Regenjacke, legte den Schal sorgfältig auf der wackeligen Garderobe ab und brachte den Schirm zum Trocknen ins Badezimmer.
»Ich habe Früchtetee gekocht. Den magst du doch«, rief Sabrina aus der Küche.
»Ja gern. Danke.« Konstanze trat ins Wohnzimmer und wunderte sich, dass noch niemand außer ihr da war.
»Wo sind die anderen?«
»Welche anderen?«
»Ich dachte, unsere Referatsgruppe trifft sich heute hier«, fragte sie.
»Ach … ähm …«, kam Sabrina ins Stottern, »nein! Die haben heute keine Zeit. Es war aber schon zu spät, um dir noch abzusagen.«
Konstanze ging zu ihrer Freundin in die Küche. Einfach das Thema totschweigen wollte sie nicht. Sie schluckte den Kloß im Hals herunter und legte eine Hand auf Sabrinas Schulter. »Es tut mir so leid wegen deiner Mutter. Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut. Ehrlich. Du weißt doch, wir haben uns nie besonders gut verstanden. Mach dir keine Sorgen um mich.« Sabrina gab sich erschreckend heiter für jemanden, der vor ein paar Tagen seine Mutter durch einen Mord verloren hatte.
»Setz dich, der Tee kommt gleich.« Völlig perplex ging Konstanze zurück ins Wohnzimmer und fragte sich, warum Sabrina so ungerührt mit dem Tod ihrer Mutter umging. Die Tatsache, dass ihre Freundin völlig anders mit dem Tod umging, als sie erwartet hatte, verunsicherte sie nur noch mehr. Sie trat ans Fenster und schaute nachdenklich auf die Blasen, die der Regen auf dem Asphalt bildete. Es hatte schon den ganzen Sommer über geregnet und der Herbst schien genauso weitermachen zu wollen. Plötzlich stutzte sie. Auf der anderen Straßenseite stand ein hagerer Mann und trat zigarettenrauchend von einem Bein auf das andere. Derselbe Mann war ihr vorhin bereits aufgefallen, als sie ihre Wohnung verlassen hatte. Er stand in der Jahnstraße gegenüber ihres Mietshauses und telefonierte.
»Kennst du diesen Kerl?«
Sabrina kam mit einem Tablett ins Zimmer, stellte es auf dem Tisch ab und trat zu Konstanze ans Fenster. »Wen denn?«
»Da drüben, der mit der Kippe.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf die Richtung.
»Nö! Noch nie gesehen. Warum sollte ich den kennen? Komm setz dich.« Sabrina ging zum Sofa und ließ sich fallen.
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