Heidrun nahm ihre Nichte in den Arm. »Du zitterst ja am ganzen Körper. Lass uns wieder einsteigen.«
Konstanze wehrte sich nicht dagegen und ließ sich teilnahmslos von ihrer Tante auf den Beifahrersitz helfen. Tränen rannen über ihr Gesicht und hinterließen eine schwarze Spur der Wimperntusche auf den Wangen.
»Was ist mit Sabrinas Vater?«, wollte Heidrun wissen.
»Ihre Eltern sind schon lange geschieden. Ihr Dad hat sich vor vielen Jahren nach Frankreich abgesetzt. Näheres weiß ich nicht, sie redet nie über ihn.«
»Ach du meine Güte, dann ist deine Freundin jetzt ganz allein.«
»Ich habe furchtbare Angst, ihr am Montag zu begegnen, Tante Heidrun.«
»Es tut mir sehr leid. Sag mir, wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Ich möchte jetzt nach Hause.«
Heidrun startete erneut das Auto und während der restlichen Fahrt sagte keiner mehr ein Wort.
Kapitel 2
Sonntag, 7. September 2014; 14:00 Uhr
Dieses verflixte Brennen im Mund, als hätte er auf Brennnesseln herumgekaut. Seine Lippen waren taub, auf der Zunge spürte er ein Kribbeln und der Gaumen brannte wie Feuer. Karl Schuster ging vor Schmerzen gebeugt in die winzige Küche, um sich einen Kamillentee zu kochen. Er nahm den zerbeulten Teekessel und ließ Wasser hinein laufen. Mit einem Küchentuch trocknete er sorgfältig die Wassertropfen am Kessel ab, setzte ihn zurück auf den Herd und drehte den Schalter der Heizplatte auf die höchste Stufe. Durch die hellbraun karierten Vorhänge am Küchenfenster fielen die warmen Strahlen der Septembersonne und tauchten das Zimmer in ein samtenes Licht. Nach dem ewigen Regen der letzten Wochen war das eine willkommene Abwechslung.
Gestern hatte Karl seit langer Zeit mal wieder einen Tag in seinem Blockhaus am See verbracht. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch den Wald war er auf ein Glas Weinbrand in seine Hütte zurückgekehrt. Er hatte nach Kerzen gesucht und dabei waren ihm Pläne und Aufzeichnungen seines Enkels Robert, dem er dieses Anwesen zur Nutzung überlassen hatte, in die Hände gefallen. Schockiert hatte er die Papiere durchgeblättert und erkannt, was sein Enkel vorhatte. Es war seine Schuld und er musste diesen Wahnsinn stoppen, bevor es zu spät war. Er war umgehend zu ihm gefahren und hatte versucht, auf ihn einzuwirken. Er könne ihn ja verstehen und sähe die Situation genauso, aber dies wäre der falsche Weg. Er würde lediglich direkt ins Verderben führen.
Robert war wütend geworden und hatte seinen Großvater wüst beschimpft. Karl hatte dagegengehalten und die beiden hatten sich in einen fürchterlichen Streit manövriert. Letztendlich hatte er sich zurückgezogen, um eine weitere Eskalation zu verhindern, hatte seinem Enkel jedoch deutlich gemacht, dass er nicht untätig zusehen würde.
Heute Morgen stand Robert dann ganz unverhofft vor seiner Tür, mit duftenden Brötchen, Karls Lieblingsmarmelade und einem Friedensangebot in der Hand. Sie frühstückten gemeinsam und die Atmosphäre war fröhlich und locker, wie immer, wenn er ihn besuchte. Obwohl sie das Thema des Streits nicht mehr ansprachen, keimte in Karl die Hoffnung auf, dass sein Enkel doch noch zur Vernunft kam.
Jetzt dachte er über die schrecklichen Pläne nach und machte sich selbst bittere Vorwürfe, Robert nicht frühzeitig in eine andere Richtung gelenkt zu haben. Er musste ihn auf jeden Fall aufhalten, koste es, was es wolle.
Das Pfeifen des kupferfarbenen Teekessels riss Karl Schuster aus seinen Gedankengängen. Er kämpfte gegen die Übelkeit an und goss das kochende Wasser in die Teekanne. Der aromatische Duft von Kamille strömte durch die Küche. Eine Grippe hat mir gerade noch gefehlt, dachte er und wurde im nächsten Augenblick von einem kräftezehrenden Hustenkrampf geschüttelt.
Vor zwei Stunden hatte dieser Husten fast zeitgleich mit der unbarmherzigen Übelkeit und dem Durchfall begonnen. Seitdem hatte sich ein furchtbares Brennen im Mund bemerkbar gemacht.
Jetzt fror er, obwohl der Thermostat der Heizung auf 23 Grad eingestellt war. Er konnte das kräftige Aufeinanderklappern der Zähne nicht unter Kontrolle bringen, sein Kiefer schmerzte bereits.
Benommen schwankte er den schmalen Flur entlang ins Badezimmer, um sich das Fieberthermometer zu holen. Es lag exakt da, wo es hingehörte, im dritten Fach des linken Spiegelschrankes. Diese rigorose Ordnungsliebe hatte seine Frau von Anfang an besonders an ihm geschätzt.
Er schob das Thermometer unter die Zunge und schlurfte zurück in die Küche. Im Vorbeigehen erhaschte er einen kurzen Blick auf sein Spiegelbild. Trübe braungrüne Augen blickten ihm müde aus einem aschfahlen Gesicht entgegen. Die Falten gruben sich heute noch viel tiefer ins Gesicht als sonst. Du siehst ziemlich fertig aus, sagte er zu seinem Gegenüber.
Zurück in der Küche nahm er eine Tasse aus dem Schrank über der Spüle und füllte sie mit Kamillentee. Den dampfenden Becher in der Hand ging er hinüber ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen abgewetzten Lieblingssessel gleiten.
Ein großer gemütlicher Ohrensessel aus echtem Rindsleder, den er vor über fünfzehn Jahren von seiner geliebten Frau zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Er vermisste seine Anneliese mit jeder Faser seines Körpers. Dieses Haus war so leer und still, seit sie vor knapp fünf Jahren bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Es war immer ihr ganzer Stolz gewesen. Ohne Karls besten Freund Jasper hätten sie diesen Umzug in ein eigenes Haus niemals geschafft. Als 1989 die Mauer fiel, fand Jasper dieses schmucke Einfamilienhaus am Rand von Bayreuth und überredete seinen Freund es zu kaufen. Karls Frau war damals so glücklich, Leipzig endlich verlassen zu können. Mit viel Liebe zum Detail hatte sie das neue Heim gemütlich eingerichtet.
Das Fieberthermometer im Mund gab einen Piepton von sich. Karl nahm es heraus und las das Messergebnis ab: neununddreißig Komma vier Grad Celsius. Kein Wunder, dass sein Kopf sich wie in Watte gepackt anfühlte. In kleinen Schlucken trank er von dem heißen Kamillentee und sogleich breitete sich eine wohltuende Wärme im Körper aus. Karl schloss die Augen und dachte über Robert und seine wahnsinnigen Pläne nach. Fieberhaft überlegte er, wie er seinen Enkel von dessen Vorhaben abhalten könnte. Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, so als ob er damit alle Gedanken wie einen bösen Traum wegwischen könnte.
Ein Schwall reißender Bauchschmerzen unterbrach seine Gedankengänge. In seinem Magen rumorte es heftig und ihm wurde übel. So schnell es ihm in seinem Alter möglich war, begab Karl sich ins Badezimmer um die Toilette aufzusuchen. Gerade noch rechtzeitig beugte er sich über die Toilettenschüssel und übergab sich. Wann hatte er sich das letzte Mal so elend gefühlt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Seine Haut brannte am ganzen Körper, als hätte jemand Säure über ihn gekippt. Erschrocken stellte er fest, dass sich auch Blut im Erbrochenen befand.
Ich rufe besser Doktor Gürtler an, dachte er, und richtete sich langsam auf. Mit seiner linken Hand hielt er sich am Rand des Waschbeckens fest, um mit der Rechten den Wasserhahn aufzudrehen. Er spülte sich mit einer Handvoll Wasser den widerlichen Geschmack aus dem Mund. Das kühle Nass brachte für einen Moment Erleichterung und das Brennen im Mund ließ nach. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, um einen kurzen Moment zu verschnaufen. Das Fieber war anscheinend noch weiter gestiegen, denn er fühlte sich wie ein Stück Grillkohle.
Nachdem Karl sich das Gesicht notdürftig abgetrocknet hatte, schleppte er sich kraftlos zurück ins Wohnzimmer und hob den Hörer des Telefons ab. Er wählte die Nummer seines Hausarztes, Doktor Gürtler. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich am anderen Ende der Leitung die freundliche Sprechstundenhilfe Elke. Karl machte sich gern einen Spaß daraus, mit ihr zu flirten, wenn er in der Arztpraxis war.
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