Elke war etwa Mitte 40 und hatte weiches strohblondes Haar, das ihr in großen Locken über die Schultern fiel. Egal wie viel Stress es bei der Arbeit gab, sie hatte immer ein freundliches Lächeln für ihre Patienten übrig. Doch dieses Mal war ihm nicht danach, mit ihr zu schäkern. Karl erklärte ihr, welche Symptome ihn plagten, und sie versprach, dass der Doktor nachher noch vorbeischauen würde.
Er ging langsam zurück zu seinem Sessel und sank erschöpft hinein. Er fiel in einen unruhigen Schlaf, begleitet von Fieberträumen, die ihm seinen Enkel als den Leibhaftigen persönlich zeigten.
Die Klingel seiner Haustür ließ ihn hochschrecken. Benommen sah er sich kurz um, bevor er wieder orientiert war. Er schaute auf die altmodische Standuhr und stellte fest, dass er etwa eine Stunde geschlafen hatte. Mühsam erreichte Karl die Haustür und öffnete sie.
»Guten Abend Herr Schuster.«
»Guten Abend Doktor Gürtler. Kommen Sie bitte herein.« Karl trat einen Schritt zurück, um dem Arzt Platz zu machen.
»Sie sehen aber gar nicht gut aus.« Mit besorgtem Blick trat der Arzt in den Hausflur, stellte seine Tasche auf dem gefliesten Boden ab, um seinen Mantel abzulegen und an der Garderobe aufzuhängen. Während beide in das Wohnzimmer gingen, begann Doktor Gürtler mit der Befragung seines Patienten.
»Wann traten die ersten Symptome auf?« Karl überlegte kurz.
»Etwa Viertel nach zwei heute Nachmittag bekam ich Bauchschmerzen und gleichzeitig Hustenanfälle. Ich fühlte mich dann relativ schnell schwach und müde.«
»Haben Sie erhöhte Temperatur, Herr Schuster?«
»Ja Herr Doktor, fast vierzig Grad waren es vorhin. Übergeben musste ich mich auch. Furchtbar.«
»Das klingt nicht gut, Herr Schuster. Da hat es Sie voll erwischt. War Blut im Erbrochenen?«
»War es, war es. Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?«
Der Arzt fühlte den Puls von Karl und runzelte die Stirn. »Ihr Herzschlag ist beschleunigt, Herr Schuster. Ich messe jetzt den Blutdruck und Ihre Temperatur.« Nachdem der Arzt seine Untersuchungen beendet hatte, setze er sich auf das altmodisch geblümte Sofa, um die notwendigen Formulare auszufüllen.
»Herr Schuster, es wäre mir lieber, wenn ich Sie ins Krankenhaus einweisen dürfte. Sie haben hohes Fieber und Ihr Blutdruck ist auch nicht optimal. Zusammen mit dem stark beschleunigten Puls und Ihrem blutigen Brechdurchfall könnte der Norovirus dahinter stecken.«
Wäre Karl in etwas besserer Verfassung gewesen, hätte er sich gegen eine Einweisung in das Krankenhaus gewehrt. Aber instinktiv spürte er die Notwendigkeit, sich dort helfen zu lassen.
»Ich schreibe Ihnen die Einweisungspapiere. Soll ich einen Transport für Sie organisieren, Herr Schuster?«
Karl dachte kurz darüber nach, seinen Enkel Robert zu bitten, schob den Gedanken jedoch energisch beiseite. Der schmerzende Gedanke an den Streit gestern Abend stieg erneut in ihm hoch. »Das wäre überaus freundlich, Doktor Gürtler. Vielen Dank.«
Kapitel 3
Montag, 8. September 2014; 00:24 Uhr
Schreiend schreckte sie aus dem Schlaf hoch. Ihre dunkelblonden Haare klebten auf der schweißnassen Stirn und kringelten sich zu widerspenstigen Locken. Im ersten Moment war sie orientierungslos, doch dann spürte sie eine warme Decke unter sich, ihr Bett. Vertraute Umgebung. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer. Es war nur ein Albtraum gewesen, ein weiterer. Wie sie diese schrecklichen Träume hasste. Seit Jahren verfolgten sie Konstanze und hatten sie schon in unzähligen Nächten um den Schlaf gebracht. Das milchige Mondlicht schien auf den Quarzwecker auf dem Nachtisch. Die Leuchtzahlen zeigten null Uhr vierundzwanzig an. Sie hatte also gerade mal eine Stunde geschlafen. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit.
Ihre Hand tastete seitlich auf der Bettdecke entlang, bis sie den warmen und samtigen Körper von Merlin spürte.
Merlin war ein schwarzer Mopsrüde, den sie vor gut einem halben Jahr angebunden auf einem Autobahnparkplatz gefunden hatte. Sie war unterwegs in Richtung Norden gewesen, um ihre Eltern zu besuchen, als das kraftlose Wimmern des Hundes auf dem Rastplatz ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Völlig ausgehungert und zitternd vor Angst stand er auf dem Gras neben einem Mülleimer, weit und breit war niemand zu sehen. Sie nahm ihn kurzerhand mit zu ihrer Familie, badete und fütterte ihn und telefonierte am nächsten Tag die Tierheime nahe dem Fundort ab. Da der Mops nicht gechipt war und die Tierheimrecherchen auch zu keinem Ergebnis führten, musste sie davon ausgehen, dass jemand das Tier mutwillig ausgesetzt hatte, und entschied sich, ihm ein neues Zuhause zu geben.
Gedankenverloren kraulte sie sein seidiges Fell und versuchte die Bilder ihres Albtraums abzuschütteln.
Ein Haus brannte lichterloh. Fensterscheiben zerbarsten und gewaltige Flammen loderten aus dem Dach heraus. Die sengende Hitze nahm Konstanze den Atem. Sie hörte die verzweifelten Hilferufe, doch das Feuer wütete bereits zu stark, um das Haus noch betreten zu können. Sie stand hilflos auf der Straße und blickte auf die brennende Hölle, ihren Mund weit geöffnet, war sie dennoch außerstande zu schreien. Ihre Freundin klammerte sich schreiend an sie, drohte den Halt zu verlieren und zu Boden zu stürzen.
Warum nur hatte sie damals nicht helfen können? Diese Frage ließ sie nie mehr los und bereitete ihr bis heute enorme Schuldgefühle.
Seit dem schrecklichen Hausbrand vor acht Jahren litt sie unter massiven Schlafstörungen. Entweder lag sie stundenlang wach, unfähig einzuschlafen und gefangen in einem Meer von düsteren Gedanken oder sie wurde von jenen, sich stets wiederholenden Traumbildern gequält. Ihre beste Freundin Astrid und sie hatten das verheerende Feuer damals überlebt. Für deren Eltern kam jedoch jede Hilfe zu spät. Die beiden Mädchen mussten mit ansehen, wie die Eltern von Astrid den Tod fanden. Konstanzes Leben hatte sich seitdem geändert. Sie wollte stark sein für ihre Freundin, konnte das Erlebte jedoch selbst nicht verarbeiten. Neben den ohnehin schon quälenden Schlafstörungen, entwickelte sie außerdem Angst- und Panikattacken, konnte sich plötzlich nicht mehr in kleineren Räumen aufhalten, bekam Schwindelanfälle in großen Menschenmengen. Ihre Eltern hatten sie immer dazu gedrängt, ihre Gesprächstherapie fortzusetzen. Doch die hatte Konstanze bereits nach vier Wochen abgebrochen. Das bringt doch überhaupt nichts, hatte sie entnervt ihrer Mutter entgegnet.
Sie streichelte Merlin über den weichen Kopf und spürte dabei ein wenig Trost. Wenigstens ihm hatte sie helfen können und dem Hund ein neues Zuhause gegeben. Dafür bekam sie von dem kleinen Mops viel Liebe und Dankbarkeit zurück.
Konstanze schlug ihre Bettdecke beiseite und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Sie fröstelte. Egal. Auf keinen Fall wollte sie die Augen nochmals schließen, wollte dem Feuer nicht erneut entgegentreten. Sie ging hinüber ins Badezimmer, tastete nach dem Lichtschalter und drehte dann den Wasserhahn der Wanne auf. Diese Badewanne war einer der Gründe, warum sie sich auf den ersten Blick in diese Maisonette-Wohnung verliebt hatte. Sie träumte schon lange davon, in einer dieser üppigen Eckwannen entspannen zu können. Auf dem Rand standen diverse Fläschchen mit Badezusätzen. Sie griff nach dem Lavendelsalz und ließ es in das heiße Wasser rieseln. Sofort stieg der beruhigende Duft ihr in die Nase.
Sie schloss für einen Moment die Augen und genoss die inneren Bilder. Südfrankreich. Vor ihr erstreckten sich ausgedehnte violette Lavendelfelder, soweit das Auge reichte. Am Feldrand fand sich ein malerisches Landhaus, auf dessen Veranda eine weiße Holzbank und ein runder Tisch standen. Dieser war liebevoll gedeckt mit einem Strauß Wildblumen, daneben stand eine bauchige Flasche Pinot Noir zusammen mit einem halb vollen Glas des französischen Landweins.
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