Als sie in Richtung Marché verschwunden war, drehte Tim sich um und hob die Plastiktüte mit dem Modellbausatz für die HMS Bounty auf.
Okay, Revell-Bausätze mit derart vielen Teilen waren nichts für Fünfjährige, da wäre Lego besser, oder Playmobil, aber er wollte die Bounty zusammen mit Kyle bauen und bemalen. Sein Kleiner hätte bestimmt riesigen Spaß dabei, und er könnte etwas mit ihm zusammen unternehmen, was beiden in Erinnerung bleiben würde. Was Jodi hoffentlich versöhnlicher stimmen würde.
Als er vorhin mit Kyle geskypt hatte, klang der Kleine, sonst munter und fröhlich, ziemlich niedergeschlagen. Jodi hatte versucht, Tim zu beruhigen: Kinder hätten eben ihre Launen. Aber das war es nicht. Tim wusste, dass Kyle alles mitbekommen hatte, was zwischen Jodi und ihm passiert war – natürlich hatte er das, er war ein aufgeweckter Junge. Kyle wusste, dass Mummy und Daddy sich getrennt hatten. Dass er, wenn er nach Sydney zurückkehrte, nicht mehr in ihrem Haus leben würde. Na klar, das machte Kyle traurig, weil er es nicht verstand. Tim war auch traurig, sehr sogar. Da half kein »Ich hab dich lieb, mein Kleiner.« und kein »Ich hab dich auch lieb, Daddy.« Denn das mündete unweigerlich in die Frage: »Und Mummy? Was ist mit Mummy?« Tim hatte seine Tränen unterdrückt und das Gespräch rasch beendet, denn er wusste, wie sehr der Anblick eines weinenden Vaters Kinder erschrecken kann.
Er atmete tief durch.
Während er nach dem Skyponat überstürzt in die Stadt gefahren war, hatte er sich all die Dinge überlegt, die er mit Kyle unternehmen konnte, wenn der bei seinem Daddy schlief.
Die Verkäuferin, die noch den blau-gelben Pareo zusammenfaltete, riss ihn aus seinen Gedanken und blickte ihn erwartungsvoll an. »Monsieur?«
Jodi und er – das konnte noch was werden!
Tim deutete auf das Tuch. »Er ist sehr schön.«
»Oui.«
»Darf ich?«
Sie zögerte kurz und blickte zur Tür. Dann lächelte sie ihn an, entfaltete den Pareo wieder und breitete ihn schwungvoll vor ihm aus. »Bien sûr.«
Das Muster gefiel ihm! Und die Farben! Der Pareo war ein echter Hingucker. Sie sähe darin richtig toll aus. Er ließ seine Finger über den Stoff gleiten. »Ist das Seide?«
Sie nickte mit Blick auf seinen Ehering. »Pour votre femme?«
Tim überlegte nicht lange. Was soll’s! »Er gefällt mir. Ich nehme ihn.«
Wieso? Schwer zu sagen. Er war weder romantisch noch sentimental – würde Jodi sagen. Er hatte auch nicht die Absicht, sie zu beeindrucken, um sie rumzukriegen. Das schaffte er vermutlich sowieso nicht. Nein, seine Entscheidung, wie immer ziemlich spontan, hatte etwas mit dem Blick zu tun, mit dem sie ihn zuletzt angesehen hatte. Es war albern, das wusste er. Total durchgeknallt, würde Jodi sagen. Aber er wollte es so.
»Ça fait 11.900 Francs Pacifiques.« Als er zögerte, rechnete sie schnell um. »99 Euros.«
Das war es ihm wert. Er gab ihr seine Platin Card.
»Merci, Monsieur. Un moment, s’il vous plaît!«
»Okay, ich warte ...«
Die knusprige Waffeltüte mit dem Mango- und Vanilleeis tropfte, aber zum Glück auf ihre Finger, nicht auf ihr Shirt. Shainee stellte ihre Tasche in den Schatten einer Palme, hockte sich ins Gras und schleckte erst einmal ihr Eis, das in der schwülen Hitze viel zu schnell schmolz.
Der Pareo ging ihr nicht aus dem Kopf.
Seit Monaten freute sie sich darauf, ein solches Tuch zu tragen. Es war so schön. Und von den Narben war doch gar nichts zu sehen ...
Komm schon, Shainee! Ein bisschen mehr Mut!
Mit klebrigen Fingern knusperte sie an der Eiswaffel herum.
Okay, also schön, ich tu’s!
Sie würde den Pareo heute Abend im Hotelrestaurant tragen. Mit einer Tiare-Blüte im Knoten. Selbstbewusst und sexy. So wollte sie sich fühlen. War sie nicht genau deshalb nach Tahiti gekommen? Also los!
Sie sprang auf, schnappte sich ihre Strandtasche und ging zurück zum Laden. Da vorn war er schon!
Ihr Herz klopfte vor Aufregung, und die Vorfreude beschleunigte ihre Schritte ...
... doch in der Tür des Ladens, neben den Verkaufsständern mit den Sonnenbrillen und den Strohhüten, blieb sie so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Wand geprallt.
Das darf doch nicht wahr sein!
Die Verkäuferin gab dem Aussie gerade seine Kreditkarte zurück. Während er sie einsteckte, faltete sie den Pareo zusammen und schob ihn in eine Papiertüte.
Der Typ hat meinen Pareo gekauft!, dachte sie. Das kann er doch nicht tun! In diesem Laden hängen nun wirklich Hunderte von Tüchern! Wieso kauft er ausgerechnet das eine, das ich haben will ... Ihr Blick fiel auf den Ring an seinem Finger ... für seine Frau?
Einen Augenblick lang war sie so fassungslos, so enttäuscht, so wütend, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie zitterte, so aufgeregt war sie.
Aber wieso eigentlich? Weil er ihren Pareo kaufte? Oder weil er verheiratet war?
Jetzt hob der Kerl die Tüte mit dem Spielzeug auf und griff nach dem Papierbeutel mit dem Pareo. Gleich würde er sich zu ihr umwenden und sie im Eingang stehen sehen.
Schon wieder den Tränen nah.
O nein, das brauchte sie jetzt wirklich nicht!
Nichts wie weg!
Shainee drehte sich um und flüchtete aus dem Laden.
Mit den Tüten schlenderte Tim am Boulevard Pomare entlang und genoss den Blick über die Blechlawine von ›Le Traffic‹ hinweg auf die weißen Segelboote, die an der Marina ankerten. Auf der Suche nach einem kühlen Bier entdeckte er in einem Shopping Center den kleinen Spielzeugladen. Der Teddybär Tahiti Style mit schwingendem Bastrock und Blütenkette war wirklich niedlich. Kyle würde begeistert sein.
Ein paar Schritte weiter fand er Le Marché, die große, helle Markthalle im polynesischen Stil. Es war ziemlich viel los. Und was es hier nicht alles zu kaufen gab! Tim ließ seinen Blick über die Verkaufsstände mit Obst, Gemüse und Meeresfrüchten schweifen, und tatsächlich, da war sie .
Sie futterte sich gerade durch den Stand eines Obstverkäufers, probierte verschiedene Früchte, die ihr aufgeschnitten angeboten wurden: kleine Bananen, eine Guave, eine Mango, eine Passionsfrucht. Dann bedankte sie sich herzlich, reichte einen Strauß zerknitterter Scheine über den Tisch und schlenderte weiter.
Der Marché aux Fleurs war ein Meer von Farben und Düften. Tropische Büten, wohin er schaute, zart, seidig, weich, in allen Schattierungen von Rot, Pink und Violett, dazwischen Bananen- und Palmenblätter. Wie die exotischen Blüten hießen? La Rose de Porcelaine, wurde ihm zugerufen, Héliconia, Anthurium, Tiare, Opuhi. Nie gehört. Aber richtig schön. Okay, welche sollte er nehmen? Die Rose de Porcelaine gefiel ihm am besten, weil sie sehr auffällig war. Aber, hey, eine Rose? Das könnte sie komplett falsch verstehen.
Fasziniert beobachtete er eine alte Vahine, die hinter einem Blumenstand mit geschickten Fingern ein Collier de fleurs flocht: Die Blüten waren wunderschön, und der Duft nach Jasmin war überwältigend. Genau das Richtige! Ça fait combien? Merci, Madame!
Mit dem Blütenkranz in knisternder Folie machte er sich auf die Suche nach ihr .
Er fand sie im oberen Stockwerk, über die Balustrade gelehnt, das iPhone in der Hand. Sie schoss ein Foto, und Tim konnte sich ihr unbemerkt nähern.
»Hey.«
Sie drehte sich zu ihm um. Sie trug duftig weite Kleidung, und an ihrem Handgelenk prangte eine teure Uhr, kein Gold, keine Diamanten, nur schlichte Eleganz, die zu ihrem unkomplizierten, lässigen Auftreten passte. Die Unsicherheit von vorhin, die Befangenheit, die Scham, das alles schien verflogen. Sie lächelte: »Hey.«
Tim trat näher. Sie duftete nach Sonnencreme, Kokos und Mango. Der Fruchtsaft war ihr eben über das Kinn gelaufen.
Er stellte seine Einkaufstaschen ab. Sie beobachtete ihn mit hochgezogenen Schultern, als er den Pareo aus der Papiertüte zog, schwungvoll entfaltete und ihr über den Arm geworfen hinhielt. »Hier – bitteschön.«
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