Ich habe eben darüber nachgedacht, ob ich Dir den Brief heute überhaupt schicken soll, wo Du ohnehin schon völlig am Boden zerstört bist. Es wird nicht leicht für Dich. Aber nun weißt Du, dass ich Dir geschrieben habe und wirst keine Ruhe finden, bevor Du erfährst, was drin steht. Also, ich habe meine Zeilen an Dich als .pdf angehängt. Bitte lies sie.
Wir reden, wenn Du Dich entschlossen hast, nach Hause zu kommen. Ich warte auf Dich, Jodi
Anlagen Brief an Tim.pdf
Seine Hände hatten gezittert, als er die Datei anklickte und ihre Handschrift auf dem eingescannten Brief erkannte.
Tim,
ich möchte, dass Du eines weißt: Ich suche nach Worten, und die Tränen rinnen mir über das Gesicht, während ich Dir schreibe. Es ist so schwer, Dir zu sagen, wie ich mich nach Deiner Abreise fühle. Ich hatte so sehr gehofft, dass Du nicht gehst. Aber das weißt Du – wir haben so oft darüber geredet. Als Du mich verlassen hast, hast Du mich um Verzeihung gebeten. Und auch ich hoffe jetzt, dass Du mir das, was ich Dir zu sagen habe, irgendwann vergeben kannst.
Tim, ich mache mir Sorgen, die ganze Zeit. Es ist wie damals im Outback, als ich nicht wusste, ob mein ›Flydoc‹ zu seiner ›Homebase‹ zurückkehren wird oder ob er abgestürzt ist. Nein, Tim, es ist noch viel schlimmer. Ich sehe die Nachrichten, ich lese die Zeitung, ich surfe im Internet und habe schreckliche Angst. Ich zucke zusammen, wenn das Telefon klingelt, weil ich fürchte, die Nummer von Médecins Sans Frontières oder die der Herzchirurgie des Royal Prince Alfred Hospital zu sehen. Ich habe Angst vor dieser Nachricht: Mrs Winslow, zu unserem großen Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann, Dr Timothy Winslow, während seines freiwilligen humanitären Einsatzes getötet wurde.
Bitte versteh mich nicht falsch. Ich respektiere Deine Entscheidung, immer noch. Ich bin stolz auf Dich, wenn ich Dich in Interviews auf CNN oder Talkshows auf ABC sehe. Wie oft habe ich in den letzten Jahren zu meinen Freundinnen gesagt: Mit dem gut aussehenden Kerl mit dem charmanten Lächeln bin ich verheiratet. Ja, ich bin wirklich stolz auf Dich. Du leistest großartige humanitäre und medizinische Arbeit. Du rettest Leben. Du linderst Leid. In Erdbebengebieten in Haiti, in Kriegsgebieten in Libyen, in Äthiopien und im Tschad – aber das Katastrophengebiet unserer Ehe übersiehst Du dabei. Tim, ich halte das nicht länger aus. Und Kyle auch nicht. Unser Sohn leidet unter Deiner Abwesenheit, genau wie ich. Aber das merkst Du sicherlich, wenn Du mit ihm skypst. Wie oft fragt er Dich, wann Du zurückkehrst. Kyle sehnt sich nach Dir. Er braucht einen Daddy, der ihn während seiner ersten Schritte ins Leben begleitet.
Und ich brauche einen Mann, der für mich da ist, der mich in den Arm nimmt, der mich liebt, kein Foto von Dir neben meinem Bett, sondern einen Mann aus Fleisch und Blut in meinem Bett. Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass Kyle nicht allein bleiben soll. Meinen Wunsch nach einem zweiten Kind habe ich noch nicht aufgegeben.
Tim, ich habe mich entschieden. Während ich darauf warte, dass Du nach Hause kommst, packe ich Deine Sachen. Ich vertraue darauf, dass Du mir das Haus überlässt. Kyle spielt so gern unter den Eukalyptusbäumen im Garten. Ich hoffe, dass wir es schaffen, als Freunde auseinander zu gehen. Ein Streit würde das zunichte machen, was uns all die Jahre verband. Und noch verbindet. Ich liebe Dich immer noch. Du bist ein großartiger Mensch. Gefühlvoll. Aufrichtig. Verständnisvoll. Sehr großzügig. Und immer bereit zu vergeben.
Die Jahre mit Dir waren die glücklichsten meines Lebens, die aufregendsten, die abenteuerlichsten, aber sie waren auch die unglücklichsten.
Es tut mir alles so leid.
Jodi
Sie fehlte ihm. Und wie.
Und Kyle erst.
Er würde versuchen, sie anzurufen. Aber es war erst kurz vor sieben. Viel zu früh für einen Anruf in Sydney. Okay, also später.
Seufzend stellte Tim das Foto der glücklichen Familie zurück auf den Nachttisch, wo auch sein Ehering lag. Er hatte ihn gestern Abend abgenommen, irgendwann nach dem dritten oder vierten Glas Rotwein, als er seine Seesäcke und Alukisten ausgepackt und sich für die nächsten acht Tage häuslich eingerichtet hatte. Er wusste nicht mehr, was er eigentlich dabei empfunden hatte. Wut? Resignation? Trotz?
Jodi und er lebten jetzt getrennt, Worte wie Scheidung, Sorgerecht, Unterhalt und Vermögenswerte standen noch nicht zwischen ihnen. Aber ob es noch Hoffnung gab, dass sie wieder zueinander fanden, wusste er nicht.
Während des Fluges nach Sydney hatte er sich eingeredet, dass Jodi, erschrocken über die Bilder im Fernsehen und im Internet, einfach nur überreagiert hatte, weil sie Angst um ihn hatte. Aber nachdem er mit ihr gesprochen hatte, war ihm klar: Sie war von ihm enttäuscht, weil er ein unaufmerksamer Ehemann war, der den Hochzeitstag vergaß, der während der Geburtstagsparty seines Sohnes in die Klinik gerufen wurde, um eine Herztransplantation durchzuführen, der seinen Urlaub opferte, um in Krisengebieten humanitäre Hilfe zu leisten, der seinen Job, seine persönliche Befriedigung durch Erfolgserlebnisse, sein Selbstwertgefühl über das Glück seiner Familie stellte. Als ob das Jareds Tod ungeschehen machen konnte! Oder Tims Gewissen beruhigen! O ja, Jodi war enttäuscht und wütend. Und das schon seit Jahren. Tims Abreise nach Libyen war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Also noch mal: Ist unsere Ehe gescheitert?
Oder, anders gefragt: Kann ein Mensch sich wirklich ändern? Kann ich es? Kann ich auf die Dinge verzichten, die mein Leben ausmachen, weil sie mir wichtig sind? Will ich es? Ich brauche Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es war zu viel auf einmal: der enorme Stress des humanitären Einsatzes während der Kämpfe in Libyen, der Tod des Patienten, der Brief von Jodi, der überstürzte Rückflug nach Sydney, die gepackten Kisten neben der Tür meines Hauses, der Abschied von Kyle, der sich weinend an mir festklammerte, die Fahrt zum Flughafen, das Halten am Straßenrand, weil ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte – seit fünf Tagen stehe ich irgendwie unter Schock.
Wenn ich nach Sydney zurückfliege, wird die Wohnung frei sein, die Jodi für mich gesucht hat. Sie liegt in Longueville, nicht weit von unserem Haus. Ich kann Kyle sehen, so oft ich will. Ich darf ihn für ein paar Tage zu mir holen, wenn ich das möchte. Oder mit ihm in Urlaub fahren, am Strand oder im Outback. Wie ein richtiger Daddy, der seinen Sohn liebhat. Das waren Jodis Worte.
Autsch!
Tim stand auf und streckte sich. Nackt tappte er ins Bad.
Nach der erfrischend kalten Dusche setzte er sich auf die Veranda seines Overwater Bungalows, legte die Füße hoch und wartete auf das Auslegerboot mit dem Frühstück. Das hatte er in Benghasi wirklich vermisst: den Geruch des Meeres, die Weite des Horizonts, die leuchtende Stille der Einsamkeit. Die unberührte Schönheit des erwachenden Tages ließ ihn endlich die Ruhe finden, die er gestern Nacht so verzweifelt gesucht hatte.
Sein Blick schweifte über das tiefblaue Wasser, in dem sich die goldenen Wolken über den Bergen von Moorea spiegelten. Da kam schon das Boot! Ein Mann mit buntem Lendentuch und Blätterkranz ruderte eine junge Frau, die kaum mehr trug als die Blütenketten um ihren Hals, zu ihm herüber. Mit einem strahlenden Lächeln winkte sie ihm zu, während das Boot an der Veranda des benachbarten Bungalows vorbeiglitt. Dort stand eine Frau mit einem Champagnerglas in der Hand und beobachtete die Szene. Tolle Figur: groß, schlank und sonnengebräunt. Kurzer, kesser Haarschnitt. Die hellen Strähnchen ließen sie jünger aussehen als Mitte vierzig. Irgendwie niedlich. Und ziemlich sexy. Als sie ihn schließlich bemerkte, nickte sie ihm zu. »Bonjour!«
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