Ihr Akzent war amerikanisch. Tim winkte zurück. »Hey! Ia orana!«
Sie lachte ausgelassen. »Ia orana.«
Unter ihm steuerte das mit Palmblättern und Blüten geschmückte Boot an die kleine Holztreppe heran, die von der Veranda ins Wasser führte, und drehte bei. Der Ruderer hob eine große Muschel an die Lippen und blies hinein. Ein dumpfes Dröhnen hallte über die stille Lagune.
»Bonjour, Monsieur!«, begrüßte ihn die junge Tahitianerin im Boot mit einem strahlenden Lächeln. »Le petit-déjeuner que vous avez commandé.«
»Merci. Maruru.« Als Tim wieder zum anderen Bungalow hinübersah, war seine Nachbarin verschwunden.
Die Tahitianerin im Pareo kam die Stufen herauf. In jeder Hand trug sie einen in Folie verpackten und mit Blüten verzierten Teller mit hübsch arrangierten exotischen Früchten und mariniertem rohem Fisch. Danach gab es Croissants mit Nougatfüllung und Café au lait. Während sie das luxuriöse Frühstück zwischen den Blüten auf dem Tisch arrangierte, öffnete ihr Begleiter die Champagnerflasche im Eiskühler und schenkte Tim ein.
»Maruru.« Er hob das Glas und trank einen Schluck. »Très bien. Maitai roa.«
Das Lächeln der jungen Frau war bezaubernd. »Können wir noch etwas für Sie tun, Monsieur?«
»Ja, das können Sie tatsächlich. Ich möchte heute Nachmittag nach Papeete fahren. Sightseeing. Shopping. Dinner am Hafenkai. Wie komme ich in die Stadt?«
Da, die Postkarte! Traumhaft schön!
Shainee nahm sie aus dem Drehständer und betrachtete sie.
Eine spiegelglatte Lagune mit sanften Wellen in allen Schattierungen von Tintenblau bis Türkis. Am Horizont, zwischen zwei palmenbewachsenen Landzungen, die Silhouette einer Insel. Die Aufschrift lautete: Tahiti et ses iles. Vue de Bora Bora, prise de Tahaa.
Die Postkarte wirkt auf mich ... wie soll ich sagen? ... aufrichtig, dachte sie. Keine blütengeschmückte Vahine mit strahlendem Lächeln, kein tattooverzierter Tane mit Bastrock und Blätterkranz. Kein inszenierter Traum vom Paradies, sondern die unverfälschte Schönheit der Natur. Wahrhaftigkeit. Einsamkeit. Das ist es, was ich auf Tahiti suche. Ich will mich selbst wiederfinden. Die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die nie ganz verloren war. Die Erfüllung in lustvollem Sex und ausgelassener Lebensfreude, ohne Scham, ohne Unsicherheit, ohne Angst.
Leben will ich, nicht nur überleben.
Nichts ist, wie es früher einmal war. Für mich ist es ebenso schwer, das hinzunehmen wie für Mark. Ich werde ihm diese Postkarte mit ein paar Zeilen schicken, um ihm ein bisschen Hoffnung zu machen. Diese Reise war schließlich seine Idee. Er sieht darin eine Chance für unsere Partnerschaft, sagt er. Eine Chance, neue Wege zu gehen, neue Erfahrungen zu wagen und am Ende der Reise zueinander zurückzukehren, um uns, unsere Gefühle und unsere Sexualität neu zu entdecken.
Mit der Karte betrat Shainee den Souvenirladen und fragte gleich noch nach der passenden Briefmarke nach San Francisco. Sollte sie sich noch eine SIM-Karte für ihr iPhone besorgen, das auf den Inseln nicht funktionierte? Nein, lieber nicht. Sie wollte nicht ständig erreichbar sein. Mark und sie konnten ja abends skypen.
Sie steckte die Postkarte in die Strandtasche zu den anderen Souvenirs, die sie in den letzten zwei Stunden gekauft hatte. Die meisten Läden waren auf Tourismus eingestellt, und sie hatte einige Dinge gefunden, die ihren Liebsten gefallen würden, aber nichts für sich selbst. Für Mark hatte sie eine große Muschel als Briefbeschwerer für seinen Schreibtisch gefunden, für Lexie eine Kette aus schwarzen Tahiti-Perlen und ein Parfum, Noa von Cacharel. Wie sie wohl reagieren würde? Lexie gab sich schlaksig und jungenhaft. Weil sie viel schwamm und surfte, war ihr Körper sonnengebräunt, fest und durchtrainiert. In den weiten Klamotten, die sie ihretwegen trug, um ihre weiblichen Formen zu verbergen, steckte eine wunderschöne junge Frau. Shainee hatte schon vor Monaten mit Mark darüber gesprochen, deshalb wusste sie, dass es Lexies Entscheidung war, ihr mit dieser liebenswerten Geste zu helfen. Sie war einfach fantastisch. Im letzten Jahr war sie mehr als ein Jahr älter geworden, reifer, taffer. Sie konnte gar nicht sagen, wie stolz sie auf ihre Tochter war.
Als sie den Laden verließ und auf die Straße hinaustrat, setzte Shainee ihre Sonnenbrille auf und blickte auf die Uhr. Kurz nach vier. Die Verkaufsstände des Marché waren jetzt, nach der schwülheißen Mittagspause, wieder besetzt. Mit der Tasche über der Schulter schlenderte sie weiter.
Papeete war alles andere als ein verträumtes Südseestädtchen. Boutiquen, Souvenirläden, Restaurants und Cafés verliehen dem Boulevard Pomare, der die Hafenbucht voller Kreuzfahrtschiffe und Yachten aus aller Welt säumte, ein quirliges, kosmopolitisches Flair. Den Himmel über Papeete teilten sich die Seevögel mit den Fliegern von Air France und Air New Zealand, die mit röhrenden Triebwerken über dem Hafen in Richtung Moorea abdrehten. Nur die engen Straßen der Altstadt mit ihren Holzhäusern im Kolonialstil und ihren Gärten voller Blumen erinnerten noch an den Südseecharme des alten Papeete.
Was sie nicht gewusst hatte: Nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer trugen hier ganz selbstverständlich Blütenketten und Blätterkränze als Ausdruck der Lebensfreude und Naturverbundenheit. Shainee musste lachen, als sie in den Gassen rund um den Marché sogar ein Motorrad entdeckte, dessen Lenker mit einer Blumengirlande geschmückt war – nicht etwa aus Papier oder Plastik, wie in Hawaii, sondern aus duftenden Tiare-Blüten. Alles echt! Überall Blütenduft und fröhliche Musik!
Die Markthalle lag nur ein paar Schritte vom Hafen entfernt. Le Marché war laut Reiseführer einer der schönsten Märkte der Südsee, wo Früchte, Gemüse und Fisch angeboten wurden. Die Stimmung voller Farben und Düfte sollte besonders quirlig sein, wenn nachmittags die fangfrischen Meeresfrüchte angeliefert wurden. Das wollte sie sich unbedingt ansehen! Und dann brauchte sie dringend eine Verschnaufpause, bevor sie mit einem der Trucks, den öffentlichen Minibussen, die sie an die Cable Cars in San Francisco erinnerten, zum Abendessen wieder ins Hotel zurückfuhr.
An dem Laden mit den Pareos konnte sie einfach nicht vorbeigehen. Diese Farben und Muster! Mit großen Augen streifte sie durch den kleinen Shop und duckte sich unter den großen Tüchern hindurch, die an gespannten Leinen unter der Decke hingen und im Luftzug des Ventilators hin und her schwangen: Überall leuchteten Blüten, Blätter, Früchte, Muscheln, Fische und Wellen in fröhlichen Farben. Unter einem Ladentisch stand ein großer Pappkarton. Darin lag zusammengerollt ein kleiner Junge und schlief. Wie süß!
Eine Verkäuferin mit einer weißen Tiare-Blüte im Haar wollte ihr zeigen, wie ein Pareo gebunden wird. Shainee zögerte, aber die Lebensfreude der Tahitianerin riss sie mit. Sie nahm ein schwarzgrundiges Tuch mit einem leuchtenden Fleurs-des-Iles-Aufdruck und legte es Shainee über ihrer weiten Seglerhose um die Hüften. Die beiden Enden verschlang sie zu einem Knoten und lachte dabei. »Voilà, c’est tellement facile.« Sie steckte eine Hibiskus-Blüte in den Knoten. »Très sexy.«
Shainee betrachtete sich im Spiegel.
Die Verkäuferin bemerkte ihr Zögern, ihre Anspannung, und ihr Gesicht wurde sanft und ernst. Sie löste den Knoten und schlang den Pareo mit wenigen Handgriffen zu einer kurzen, schwingenden Hose mit zwei Knoten links und rechts der Taille, die sie geschickt mit perlenbesetzten Ringen schmückte.
Reglos starrte sie in den Spiegel.
»Madame«, sagte die Verkäuferin behutsam und deutete nach oben auf die Leinen, »aus den Tüchern hier kann ich ganz schnell eine Umkleidekabine machen.«
Shainees Blick glitt über die herrlichen Stoffe. Das sehnsüchtige Gefühl in ihr wurde stärker, und sie gab nach. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich würde gern einen Pareo als Robe Classique anprobieren.«
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