Sein Assistent deutet auf den Patienten zwischen ihnen. »Er hier findet, dass Sie ein prima Herzchirurg sind. Einer der besten.« Er sieht Tim an. »Wie ist die Lage in Sydney? Will Ihre Frau die Trennung?«
Tim antwortet nicht. Ein Blick zum EKG: stabile Frequenz. Das Herz schlägt kräftig und stetig. Blutdruck und Puls in Ordnung. Das war’s. Er sieht sich nach der Schwester um. »Was jetzt?«
»OP-Zelt sieben, Doc. Schwere Thoraxverletzungen nach einer Explosion, Lunge kollabiert, hoher Blutverlust. Ein französischer Journalist. Er wäre im Rettungshubschrauber beinahe gestorben.«
»Alles bereit?«
»Intubiert und anästhesiert. Das OP-Team steht bereit. Sie warten nur noch auf Sie, Dr Winslow.«
»Dann los.«
Tim will schon das Zelt verlassen, um sich um den nächsten Patienten zu kümmern, als plötzlich ein schrilles Klingeln ertönt. Kammerflimmern!
Hektik bricht im Zelt aus. Es besteht die Gefahr eines plötzlichen Herztodes. Und der Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff. Schnell jetzt!
Das Fiepen des EKG übertönt den Alarm: Nulllinie!
Nur das nicht! Bitte nicht!
Herzdruckmassage! Die Spritze mit Lidocain? Der Defibrillator? Na los, beeilt euch!
Tim legt die Paddles an. »Alle zurück! Und Schuss!«
Der Körper bäumt sich auf, aber die Geräte zeigen keine Reaktion.
Intubieren! Eine Spritze mit Adrenalin!
Noch ein Schuss mit dem Defibrillator, stärker dieses Mal.
Atmung? Blutdruck? Herztöne?
Nichts, nichts, nichts!
Und noch ein Schuss.
Immer noch die Nulllinie.
»Skalpell! Rippenspreizer! Ich mache ihn noch mal auf.«
Dann hält er das leblose Herz in beiden Händen ...
Mit einem Keuchen schreckte Tim aus dem Traum, der ihn jede Nacht verfolgte. Sein Puls raste, sein Atem ging schwer, und er war schweißnass. Adrenalin strömte durch seine Adern. Sein Mund war trocken, und seine Augen brannten. Vor heißem Sand? Vor erstickendem Rauch? Oder vor Tränen? Stöhnend fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn und schnaufte tief durch. Am ganzen Körper zitternd, drehte er sich auf die Seite und streckte die Hand nach Jodi aus. Er sehnte sich danach, von ihr im Arm gehalten zu werden, bis er sich beruhigt hatte.
Aber Jodi war nicht da, nicht mehr.
Er blinzelte das unberührte Kissen neben ihm an. Der Blütenkranz aus duftendem Jasmin war auf das zerwühlte Bettlaken gerutscht. Die leere Rotweinflasche und das Glas auf dem Nachttisch brachten mit dem schalen Nachgeschmack seine Erinnerung zurück. Okay, ja! Der lange Flug von Sydney nach Auckland und weiter nach Rarotonga. Die Ankunft in Papeete gestern Abend nach der zwölfstündigen Reise. Die Fahrt ins Resort, müde und genervt. Das Auspacken der Seesäcke und Transportboxen bei einer exzellenten Flasche Cabernet Sauvignon, die Wut, die Enttäuschung, die Einsamkeit. Und immer wieder die aufwühlenden Rückblenden auf jene OP vor fünf Tagen. Er kam damit einfach noch nicht klar. Das Gefühl, versagt zu haben, kannte er nicht. Weder als Doc noch als Daddy.
Tim setzte sich im Bett auf und starrte das Foto auf seinem Nachttisch an. Jodi hatte es in eine der Aluboxen gesteckt, die sie für ihn gepackt hatte.
Mein ganzes Leben passt in zwei große Transportboxen, dachte er. Mehr ist mir nicht geblieben. Meine Kleidung, mein Notebook, ein paar zerlesene Bücher, hauptsächlich Nelson DeMille, alle anderen als eBooks, meine CDs von Maria Callas und Alanis Morissette, eine Schachtel voller Fotos. Etwas zum Leben, etwas zum Erinnern. Aber, ganz ehrlich, braucht man mehr? Ich habe meine Frau und meinen Sohn verloren, die ich sehr liebe, ich habe meinen Job bei Médecins Sans Frontières hingeschmissen, der mir sehr viel bedeutet hat, und ich weiß nicht, wie es nun weitergeht. Seit meiner Abreise aus Sydney gleicht mein Leben einer Expedition in ein unbekanntes Land. Eine solche Reise sollte man mit leichtem Gepäck antreten.
Er nahm den Rahmen vom Nachttisch.
Das Foto war fünf Jahre alt. Jodi und er lagen nackt im zerwühlten Bett, zwischen ihnen strampelte Kyle, er hatte nur eine Windel an. Er hatte die Beine angezogen und die Arme weit ausgestreckt, um Mummy und Daddy zu erreichen, und er lachte vergnügt.
Eine glückliche Familie, dachte Tim. Jodi hat das Foto mit Bedacht eingepackt. Es zeigt, was ich verloren habe. In den Aluboxen habe ich nach einem neueren Foto von Kyle gesucht. Mein Sohn und ich, als wir ausgelassen am Strand herumtoben und Rugby spielen. Oder Kyle auf meinem Schoß, als er meinen Audi Q7 die Auffahrt unseres Hauses in Sydney hinunterfährt. Wie er sich gefreut hat, weil ich ihn mein Auto fahren ließ! Das war vor einem halben Jahr gewesen, an Kyles fünftem Geburtstag. Die Fahrt mit Daddy war das schönste Geschenk von allen gewesen! Na klar, Jodi hat das Foto absichtlich nicht eingepackt. Wozu auch? Als Vater bin ich ja ein Versager. Ich habe ihm nie die Windeln gewechselt, den Spinat aus dem Gesicht gewischt oder ihm Gutenachtgeschichten vorgelesen. Ich bin ja nie da für meinen Sohn.
Ihre Mail hatte ihn kalt erwischt. Nach dem Tod des jungen Amerikaners auf seinem OP-Tisch hatte Tim mit ihr reden wollen. Es war ihm gar nicht gut gegangen, trotz des Beruhigungsmittels und trotz des langen Spaziergangs durchs Camp, um all diejenigen zu besuchen, die er gerettet hatte, deren Wunden heilen würden, die weiterleben würden. Ihr dankbares Lächeln und ihr ausgelassenes »Hey, Doc!« hatten ihn nicht davon ablenken können, dass einer von ihnen nie mehr nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern zurückkehren würde. Bevor er versucht hatte, Jodi über Skype anzurufen, hatte er in seinem Zelt seine Mails gelesen.
Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com
An: Flydoc tim.winslow@sydney.msf.org
Kopie: Flydoc tim.winslow@live.com
10.06.2011 / 20:58
Betreff: Wo steckst Du?
Tim, hast Du meinen Brief bekommen? Mir ist klar, dass Du Zeit brauchst, um über alles nachzudenken. Aber lass mich zumindest wissen, ob Du ihn gelesen hast. Jodi
Eine zweite Mail war zwei Stunden später abgesandt worden.
Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com
An: Flydoc tim.winslow@sydney.msf.org
Kopie: Flydoc tim.winslow@live.com
10.06.2011 / 23:14
Betreff: Wieso meldest Du Dich nicht?
Tim, wenn Du mehr Zeit brauchst, kann ich das verstehen. Aber ich habe in den Nachrichten gesehen, was in Benghasi los ist. Ich mache mir Sorgen. Bitte sag mir, dass es Dir gut geht. Jodi
Auf seinen Anruf über Skype hatte Jodi nicht reagiert. Offenbar hatte sie nicht mit ihm reden wollen.
Was stand in dem Brief?
Von: Flydoc tim.winslow@live.com
An: Homebase jodi.winslow@hotmail.com
11.06.2011 / 00:19
Betreff: Aw: Wieso meldest Du Dich nicht?
Jodi, es geht mir nicht gut. Ein Patient ist heute gestorben. Ich bin völlig durch den Wind. Die Erinnerungen an meinen Bruder lassen mich einfach nicht los. Ich würde gern mit Dir darüber reden. Ich brauche Dich. Wieso beantwortest Du meinen Anruf nicht?
Was für ein Brief? Ich habe keinen bekommen. Was stand denn drin?
Ich liebe Dich, Tim
Er hatte ihre Mail abgewartet, die nach sieben Minuten eingetroffen war – in Sydney war es neun Stunden später. Jodi war also online gewesen und hatte, nachdem sie Kyle am Morgen in die Schule gebracht hatte, auf seine Antwort gewartet.
Von: Homebase jodi.winslow@hotmail.com
An: Flydoc tim.winslow@live.com
11.06.2011 / 00:26
Betreff: Mein Brief
Tim, es tut mir leid, dass Du es auf diese Weise erfahren musst. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig, ich weiß. Dass Jareds Tod nach all den Jahren schreckliche Erinnerungen in Dir aufwühlt, verstehe ich sehr gut.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll – vielleicht ist der Brief verloren gegangen. Ich habe ihn mit der Hand geschrieben und in einen Umschlag gesteckt, weil ich das für die persönlichste Weise hielt, Dir zu sagen, wie ich mich entschieden habe. Über Skype konnte ich das einfach nicht. Es ist so schwer, die richtigen Worte zu finden. Sorry, Tim, ich will Dir nicht wehtun, ganz sicher nicht.
Читать дальше