Wie süß von ihm! Aber so war er!
Warum sie die Karte umdrehte, wusste sie selbst nicht. Auf der Rückseite las sie:
Du glaubst doch nicht, dass das schon alles ist?
Öffne Deinen Koffer!
Oh, Mark!
In ihrem Gepäck fand sie einen cremefarbenen Umschlag. Ein Brief? Verwirrt riss sie ihn auf und zog das dicke, seidige Papier hervor. Ein warmes Gefühl rieselte durch ihren Körper, und sie begann zu zittern.
Das in den Brief eingefaltete Foto zeigte Mark und sie als Schattenrisse im Gegenlicht am Strand von Carmel. Er hatte seinen Arm um sie gelegt, und sie lehnte sich gegen ihn, während sie den rosenfarbenen Sonnenuntergang über dem Pazifik betrachteten. Shainee wusste noch, wie es sich anfühlte, von Mark gehalten zu werden. Sie wusste noch, wie warm dieser Abend gewesen war, wie schön, wie romantisch. Lexie hatte diese Aufnahme gemacht – es war Shainees Lieblingsbild. Aber der Anblick versetzte ihr jetzt einen Stich ins Herz. Denn das Foto zeigte das, was Mark und sie vor einem Jahr verloren hatten. Die Fähigkeit, sich mit allen Sinnen auf den anderen einzulassen und für ihn da zu sein. Ihre Angst zu vergessen. Einfach nur zu leben.
Sie musste schlucken, so gerührt war sie, als sie schließlich Marks Brief entfaltete.
Shainee, my love.
Die Kehle wurde ihr eng, als ihr Blick über seine Zeilen schweifte. Seine Gedanken und Gefühle, seine Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte – ihr ganzes gemeinsames Leben.
Sie kickte die Sandalen von den Füßen, klopfte die Kissen zurecht und legte sich aufs Bett, um den Brief zu lesen, den er ihr gestern Abend mit auf den Weg gegeben hatte.
Shainee, my love
Du fehlst mir jetzt schon. Aber wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich Dir nah, obwohl Du nicht mehr da bist. Dann sehe ich Dich vor mir, und ich möchte Dich berühren, Dich streicheln und Dich umarmen, so wie früher. Dich beschützen. Dich nach Hause bringen.
Wie sehne ich die verlorene Zeit zurück, als alles so einfach und unkompliziert zwischen uns war. Ein Blick war ein Blick, ein Lächeln war ein Lächeln, ein Wort war ein Wort. Es gab keine unausgesprochenen Erwartungen an den anderen, keine verschwiegenen Ängste. Nur Vertrauen und Liebe. Du musst es mir nicht sagen – ich weiß, dass ich Dir in den letzten Monaten wehgetan habe. Dass Du Dich von mir bedrängt fühlst. Dass Du verunsichert bist, wie Du nun auf mich reagieren sollst. Glaub mir, Shainee, mir geht es nicht anders. Wie Du habe ich Angst. Und wie Dir fällt es mir schwer, mir das einzugestehen oder es Dir gegenüber laut auszusprechen, während ich Dir in die Augen sehe und Deine Hand halte.
In jeder Ehe gibt es Höhen und Tiefen, und fast zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, die Liebe zueinander und die Achtung voreinander zu bewahren. Was haben wir in diesen zwei Jahrzehnten alles gemeinsam durchgestanden! Den Tod Deiner Eltern, um die Du mit Deinem Bruder getrauert hast. Die Krankheit meines Vaters, um den Du Dich hingebungsvoll gekümmert hast, als ich es nicht konnte. Die winzige Wohnung in Pacific Heights ganz am Anfang unserer Ehe. Das Wenige, mit dem wir viele Jahre auskommen mussten. Die viele Arbeit bis spät nachts. Die jahrelangen Misserfolge. Deine Bücher, die vom Markt genommen wurden, weil sie sich nicht verkauften. Das Gefühl des Scheiterns, der Verzweiflung, aber auch Dein Mut, an Dich zu glauben und einfach weiterzuschreiben. Aber es gab auch unvergesslich schöne Augenblicke in unserem gemeinsamen Leben. Wir haben eine wundervolle Tochter, die uns sehr viel Freude macht. Und wir haben uns – zumindest hatten wir einander noch vor einem Jahr. Und jetzt, Shainee? Was sind wir: Liebende oder Freunde?
Zwanzig Jahre – das ist unser halbes Leben! Und dann ein einziger schicksalhafter Augenblick, gefolgt von einer Zeit des Leidens! Kann dieses schmerzhafte Jahr, das nun endlich hinter uns liegt, wirklich alles zunichte machen?
Ich möchte, dass Du eines weißt, mein Liebling: Ich bewundere Dich für Deine Stärke und Deine Geduld mit mir. Ich bin so unglaublich stolz auf Dich. Ich liebe Dich von ganzem Herzen, und ich hoffe, dass Du Dir auf Tahiti darüber klar wirst, ob Du meine Gefühle noch erwiderst.
Ich werde auf Dich warten, Shainee, egal wie lange es dauert, bis Du zu mir zurückkehrst.
Mark
Nachdem Shainee den Brief ein zweites Mal gelesen hatte, ging sie hinaus auf die Veranda und setzte sich tief durchatmend in einen der Rattansessel. Wie still es so früh am Morgen war! Außer dem leisen Plätschern des Wassers unter den Holzplanken war nichts zu hören.
Liebende oder Freunde?
Hatten Mark und sie noch eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft?
Diese Frage ging ihr durch den Sinn, während sie beobachtete, wie sich der Himmel über Moorea langsam im ersten Licht verfärbte. Ein inspirierender Anblick, der sie jedes Zeitgefühl verlieren ließ! Der schwarze Schattenriss der Berge schälte sich aus dem feinen Morgennebel rings um die schroffen Gipfel, und das Funkeln der Sterne verblasste im Leuchten des Himmels. Das Meer war so ruhig, dass sich die blaugoldenen Wolken darin spiegelten. Die Sonne stieg höher und brachte den Horizont zum Glühen.
Ein neuer Tag begann. Ein neues Leben?
Ein Flattern ... ein Knistern, wie von Sand ... in der Ferne knattern Schüsse ...
»Doc?«
Er wendet sich zur Schwester um. »Yeah?«
Die Segeltuchwände des OP-Zeltes schwanken im heißen Wüstenwind, der über Benghasi hinweg aufs Meer hinaus weht. Ein NATO-Hubschrauber donnert im Tiefflug über das Zelt hinweg. Ein Rettungsheli? Mit wie vielen Verwundeten an Bord? Die Schwester, wie er in blauer Kleidung, bindet ihm den Mundschutz über der Kappe fest, während er seine schweißnassen Finger in die Latex-Handschuhe schiebt.
Das Radio übertönt das rhythmische Piepsen und Schnaufen der Geräte und die Unruhe vor der OP. Sein Assistent hat das iPhone an Lautsprecherboxen angeschlossen. »Heavy fighting continues in Libya. The international medical humanitarian organisation Médecins Sans Frontières evacuated its team from cities in the west, following repeated shelling. As the conflict continues, MSF is expanding its assistance in the cities of Misrata and Benghasi and in the camps along the border ...«
Der Assistent fummelt am iPhone herum. Ruhige klassische Musik erfüllt jetzt das OP-Zelt. Die Schüsse und Explosionen klingen allen im Team viel zu nah.
»Los geht’s.«
Die Herzoperation mitten in der Wüste ist ein Risiko. Der schwer verletzte junge Mann auf seinem Tisch ist ein Amerikaner mit Schusswunden in der Brust. Seine Patienten sind so international wie sein OP-Team – nur sein Assistent ist wie er ein Aussie.
Ein offener Brustkorb, ein blutverschmierter Rippenspreizer, ein stetig pulsierendes Herz. Das Gewebe daneben ist von Kugeln zerfetzt. Aber er wird es schaffen.
»Wie geht’s Ihrem Kleinen, Doc?«
Er blickt kurz auf, während er die Fäden zu einem Knoten schlingt. Sie sind gleich fertig. »Kyle? Prima. Ich habe gestern mit ihm geskypt, bis der Generator zusammenbrach und der Strom ausfiel. Er hat gefragt, wann ich endlich nach Hause komme. Schere!«
Der Faden wird abgeschnitten. »Und was sagt Mummy?«
Tim schnauft durch die Nase.
Ein verständnisvolles Lächeln unter dem Mundschutz – sein Assistent war auch nicht zu Hause, als seine kleine Tochter die ersten Schritte machte. Sie waren zusammen in Haiti, um den Erdbebenopfern zu helfen. Er muss sich zu Hause denselben Vorwürfen stellen wie Tim. Und er muss allein mit demselben Gewissenskonflikt fertigwerden. »Als Daddy eines Fünfjährigen haben Sie ja wohl total versagt, Doc«, meint der andere zynisch.
»Das findet Jodi auch«, sagt Tim, und es klingt ein bisschen verbittert.
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