Langsam wurde Larissa sauer. Was fällt dieser Frau eigentlich ein? Dies fehlte ihr heute wirklich noch. Fast eine Woche lang hatte sie wegen dieser Kuh kaum schlafen können. Musste immer wieder die abschätzenden Blicke ihrer Kollegen ertragen. Und jetzt auch noch dieser Mist.
„Sie wissen nicht das Geringste über mich! Und Ihre haltlosen Anschuldigungen muss ich mir nicht länger anhören.“
Ohne auf eine weitere Erwiderung zu warten, ging Larissa davon. Jetzt hatte sie wirklich genug und keine Lust mehr, ihrer Vorgesetzten gegenüber freundlich zu bleiben. Sie rechnete damit, dass Sonja Neumann ihr wütend folgen würde, doch sie hatte Glück. Schnell ging sie Richtung Ausgang, denn inzwischen war Larissa die Party völlig gleichgültig. Wahrscheinlich würde der neue Besitzer sowieso nicht mehr kommen. Die anderen würden ganz umsonst den ganzen Abend in der Filiale verbringen. Ohne das Tempo zu verringern, ging sie durch die Tür, nur um im selben Augenblick mit einem dunkelhaarigen Fremden zusammenzustoßen.
„Vorsicht! Wo geht’s denn so eilig hin?“, erklang eine dunkle Stimme.
Schnell ging Larissa ein paar Schritte zurück und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Es war ihr unglaublich peinlich und sie hoffte nur, dass niemand es gesehen hatte.
„Es tut mir wirklich leid! Ich habe Sie nicht gesehen.“
„Bei diesem Tempo war das wohl auch kein Wunder“, sagte der Fremde freundlich.
„Vielleicht sollten wir uns erst einmal vorstellen? Ich bin Ralph.“
Er streckte Larissa die Hand entgegen, welche sie, ohne nachzudenken, ergriff. Er sah nicht verärgert aus. Und er sah sie auch nicht so abschätzend an, wie es ihre Kollegen so gerne taten. Stattdessen war sein Blick freundlich, seine Hände warm und Larissa überlief bei der Berührung ein leichter, angenehmer Schauer.
„Lara. Ich meine, Larissa Krüger“, stammelte sie etwas verlegen. „Doch die meisten Leute nennen mich einfach nur Lara.“
„Okay. Einfach nur Lara“, sagte er mit einem amüsierten Ton in der Stimme. „Wieso wollen Sie denn schon gehen? Soweit ich sehen kann, spielt sich die Party drinnen ab.“
Kurz folgte Larissa seinem Blick hinein in das laute Treiben. Dann wandte sie sich wieder Ralph zu.
„Ich bin nicht so der Partytyp!“, erwiderte sie knapp. „Daher möchte ich langsam nach Hause.“
Neugierig beobachtete er sie und begann, leicht zu lächeln.
„Kann ich verstehen. Auch für mich sind solche geschäftlichen Partys nicht gerade reizvoll.“
Erstaunt sah Larissa ihn an.
„Woher wissen Sie, dass dies eine Firmenfeier ist?“, fragte sie plötzlich ganz ohne ihre typische Schüchternheit.
„Weil Victor de Luca mich gebeten hat, ihn hier zu vertreten!“
„Wirklich?“ Die Überraschung spiegelte sich in Larissas Gesicht wider. „Arbeiten Sie auch für den de-Luca-Clan?“
„Das kann man so sagen!“
Erneut begann er, leicht zu lächeln, während seine braunen Augen leicht aufblitzten. Noch nie hatte Larissa einen so attraktiven Mann gesehen. Ein paar seiner kurzen Locken fielen ihm leicht ins Gesicht und bildeten so einen angenehmen Kontrast zu seinem perfekt geschnittenen Anzug. Kurz sah sie auf ihr eigenes Kleid hinunter. Ein einfaches und langes braunes Kleid, mit dicken Trägern und einem hochgeschlossenen Ausschnitt. Dazu war ihr langes blondes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Insgesamt machte dies nicht wirklich etwas her. Im Gegenteil! In diesem Outfit sah sie eher wie eine Klosterschülerin aus und nicht wie eine erwachsene Frau. Jetzt bereute sie es, dass sie sich keins der eleganten Kleider ihrer Freundin Ronja geliehen hatte. Diese hatte es ihr angeboten, doch eine festliche Garderobe war Larissa nicht notwendig erschienen.
„Wollte Herr de Luca nicht persönlich kommen?“, fragte Larissa schnell, um das plötzliche Schweigen zu beenden.
„Das ist richtig! Doch er ist gerade ziemlich erkältet. Ich wollte sowieso nach Berlin, daher hat er mir diese Aufgabe übertragen. Ehrlich gesagt kann ich mir aber etwas Besseres vorstellen. Zum Beispiel könnten Sie mit mir essen gehen.“
Überrascht blickte sie ihn an. Essen gehen? Ist das sein Ernst? Noch nie war sie einfach so eingeladen worden. Gut! In der Regel war sie auch viel zu schüchtern, um überhaupt mit einem Mann zu sprechen. Bei Ralph hingegen fiel es ihr leicht. Sie wusste nicht, warum es so war, doch es fühlte sich richtig an. Schließlich entschied sich Larissa, mal etwas zu wagen und nickte leicht. Kurz darauf führte Ralph sie bereits die Einkaufsstraße entlang, direkt hinein in ein schönes und exklusives Restaurant.
„Wirklich wunderschön!“
Diesen Ausdruck konnte sich Larissa nicht verkneifen, als sie sich langsam in dem Restaurant umsah. Die Wände waren in einem sanften Gelbton gehalten und harmonierten perfekt mit dem etwas dunkleren Holzfußboden. Immer mit zwei Stühlen ausgestattet, standen Holztische im Raum verteilt. Gleichzeitig gab es noch vereinzelte Tische, die etwas abseits standen und von einer Trennwand umgeben waren. Diese boten eine gewisse Privatsphäre und schützten die Gäste vor den Blicken anderer.
Mit einem Lächeln reagierte Ralph auf ihre Worte, während er sie zu einem der abgelegeneren Tische führte.
„Alex, mein älterer Bruder, hat mir dieses Lokal empfohlen. Er hat damals in Berlin studiert und hier eine Zeit lang als Kellner gearbeitet.“
Mit einem geübten Griff zog er den Stuhl zurück, damit sich Larissa setzen konnte. Kurz darauf schob er den anderen Stuhl um den Tisch herum und setzte sich genau neben sie.
„Erzähl mir was von dir“, sagte er gleich darauf. „Es ist doch in Ordnung, wenn ich Du sage?“
Wieder nickte Larissa. Noch immer war sie von der Ausstattung und dem Ambiente völlig beeindruckt. Noch nie hatte sie in einem so luxuriösen Restaurant gegessen. Selbst die Kellnerinnen schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Ausgestattet mit einer kurzärmligen, strahlend weißen Bluse, einem kurzen schwarzen Rock und schwarzen Schuhen sahen sie sehr elegant aus. Dazu hatten sie ein kleines elektronisches Handgerät, mit deren Hilfe die Bestellungen gleich an die Küche weitergegeben wurden. Jedoch blieb ihr nicht viel Zeit, weiter darüber nachzudenken, noch immer wartete er auf ihre Antwort.
„Eigentlich gibt es über mich nicht viel zu wissen!“, sagte sie schnell. „Ich bin nach dem Tod meiner Adoptiveltern im Heim und dann bei verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen. Mit 16 haben meine Freundin Ronja und ich gemeinsam eine Wohnung bezogen. Diese ist zwar nicht sehr groß, aber für unsere Bedürfnisse reicht sie aus. Wir wollten sogar gemeinsam eine Ausbildung zur Verkäuferin machen, doch Ronja wurde einige Monate später als Model entdeckt und fliegt jetzt ständig in der Welt herum. Seitdem habe ich die Wohnung meist für mich allein.“
Als Ralph daraufhin nichts sagte, blickte sie ihn an. Schweigend sah er sie an, während sein Blick gleichzeitig Anteilnahme und Stolz ausdrückte. Kurz darauf legte er seine Hand auf ihre, um ihr auf diesem Weg Trost zu geben. Obwohl sie die ganze Geschichte gerne herunterspielte und bereits viele Jahre vergangen waren, schmerzte es noch immer. Sie würde nie den Todestag ihrer Eltern vergessen, als ihre Großeltern und Tanten ihr sagten, dass es ab sofort keinen Platz mehr für sie in ihrer Familie gebe. Schließlich sei sie nur adoptiert und nicht das richtige Kind ihrer Eltern. Für sie war damals eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte bis zu diesem Tag nichts von ihrer Adoption gewusst. Doch endlich ergab das Verhalten ihrer Großmutter einen Sinn. Schon als kleines Kind war ihr aufgefallen, dass ihre Cousinen und Cousins deutlich bevorzugt wurden. So erhielt sie beispielsweise zum Geburtstag oder zu Weihnachten nur billiges Spielzeug für Kleinkinder. Und bei ihren Großeltern durfte sie nie Urlaub machen.
Читать дальше