»Nur gut, dass sich alle so schnell in Sicherheit bringen konnten. Miss Honeychurch ist soweit über den Berg und wird ohne Folgeschäden ihr weiteres – Dank Ihnen sicher langes – Leben genießen können. Mr. Bricks, aber was ist mit Ihnen? Sie sehen so erschöpft aus. Ist Ihnen nicht gut? Sie sollten mal Urlaub machen. Sie sind ja völlig überarbeitet. Damit ist wirklich nicht zu spaßen. Ich hatte schon Fälle, bei denen ...«
»Ja, da haben Sie sicher recht. Ich könnte mal wieder angeln gehen oben im Huron-Manistee Nationalpark.« Dann stockte er für einen Moment. »Honeychurch, sagten Sie? Die Honeychurches?«
»Ja, genau.«
»Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für Ihre Zeit, Doktor Hepburn.«
Eiligen Schrittes verließ jemand das Zimmer. Dann kratzte ein Füllfederhalter über Papier, ehe ich quietschende Clogs über den Boden wischen hörte. Ich schwebte zurück in mein ganz persönliches Nirwana. In die Welt, die ich mir selbst erschaffen hatte. Komisch, wieso sah ich denn jetzt einen Waschbären vor mir? Oder war es ein Biber? Ich näherte mich dem glitzernden Fluss und tauchte ein in das Rauschen des gleichförmig dahinströmenden Wassers. Ein wenig würde ich noch bleiben. Nur ein ganz kleines bisschen.
***
Im Krankenhausflur atmete er einmal tief durch. Zu schmerzvoll war die Erkenntnis, dass die Frau, die er gerettet hatte, ausgerechnet eine Honeychurch war. Nie wieder wollte er etwas mit dieser Familie zu tun haben. Nie wieder!
Dabei verkrampften sich seine Hände zu Fäusten. Seine Zähne pressten sich fest aufeinander und sein Kiefer begann zu mahlen. Er konnte es nicht verhindern, dass die Bilder unweigerlich in ihm aufstiegen.
Szenen, die er nie selbst gesehen hatte, von denen ihm seine Mutter aber auf ihrem Sterbebett berichtet hatte. Er konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie sie ihm die Geschichte seines Lebens erzählt hatte:
»Mein Junge, es ist für mich die Zeit gekommen, von dir Abschied zu nehmen. Der Tumor hat gestreut. Es gibt wenig Hoffnung auf Heilung und ich kann einfach nicht mehr. Ich werde mich meinem Schicksal ergeben, sobald ich dir erzählt habe, was mir schon lange auf der Seele brennt. Verzeih mir, mein Sohn, aber ich konnte nicht früher darüber sprechen. Allein der Gedanke daran hat mich all die Jahre unglaublich geschmerzt.«
Kurz darauf war seine Mutter für immer von ihm gegangen. Die Frau, der er alles verdankte, war gestorben und hatte ihn auf dieser Welt alleine zurückgelassen. Er schloss die Lider und erinnerte sich an die guten Zeiten. An die wenigen Nachmittage, an denen sie nicht arbeiten musste und sie in den Zoo gegangen waren.
Die Einsamkeit, die er nach dem Tod seiner alleinerziehenden Mutter als Einzelkind verspürt hatte, machte sich erneut in ihm breit. Genauso wie die Wut, die er bei dem Gedanken an das Unrecht verspürte, das seiner Mom widerfahren war.
Mit seinen achtzehn Jahren hatte er schnell lernen müssen, für sich selbst zu sorgen. An ein kostspieliges Studium war dabei nicht zu denken. Also ging er zur Feuerwehr und erfreute sich tagtäglich daran, anderen Menschen helfen zu können.
Eigentlich hatte er Arzt werden wollen, aber der Weg, den ihm das Schicksal vorgezeichnet hatte, war auch nicht schlecht. Manchmal fügte sich eins ins andere und ehe man sich’s versah, war man angekommen.
Etwas ruhiger atmete er erneut tief durch und setzte sich wieder in Bewegung. Seit dem Tag, an dem seine Mom nahezu mittellos gestorben war, hatte er bittere Rache geschworen.
Wenn sie das Geld gehabt hätten, dann – davon war er überzeugt – hätte seine Mutter diese teuflische Krankheit besiegt und er wäre nicht zur Vollwaise geworden. An diesem ungewöhnlich kalten Tag im Mai vor fünfzehn Jahren war ihm ohne Vorwarnung der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Und er wusste ganz genau, wer dafür die Verantwortung trug.
Der Hass auf den Menschen schnürte ihm die Kehle zu. Er musste hier raus. Brauchte dringend frische Luft. Nichts wie weg von hier. Nichts wie weg von ihr.
***
»Mom? Dad?«
»Ja, mein Kind. Oh, Gott sei Dank. Du bist wach.« Die Stimme meiner Mutter brach, während sie noch versuchte die Fassung zu bewahren. Doch schließlich konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten und weinte so sehr, dass ich am liebsten aufgesprungen wäre und sie in den Arm genommen hätte. Doch etwas in mir hielt mich davon ab.
Ich blickte an mir herunter. Auf meinem Körper verliefen Schläuche und Kabel, die an mehreren Geräten angeschlossen waren. Es roch so eigenartig, irgendwie steril. Was war nur geschehen?
»Dad, wo bin ich?«
»Du bist im Krankenhaus, Liebes. Du hattest einen Unfall. Im Museum hat es gebrannt. Kannst du dich denn an irgendetwas erinnern? Die Polizei und die Feuerwehr sind noch immer auf der Suche nach einer Erklärung für diesen furchtbaren Brand.«
»Ein Feuer? Im Museum? Nein, ich weiß nicht, was passiert ist. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich in der Teeküche stand. Danach ist alles weg.«
»Ach, du nun wieder. Lass das Kind doch erstmal zu Atem kommen und freu dich darüber, dass sie wieder bei uns ist, anstatt gleich wie der Sheriff nach Antworten zu suchen.«
»Entschuldige bitte, Liebes. Deine Mutter hat natürlich vollkommen recht. Können wir etwas für dich tun? Möchtest du etwas essen oder trinken? Soll ich den Arzt rufen? Dann könnten wir gleich fragen, wie es denn nun weitergeht.« Mom und ich nickten ihm zu und Dad verließ das Zimmer.
Ich wusste gar nicht so recht, wie mir geschah. Eben hatte ich noch geträumt und war so weit weg von allem und jedem. Und nun prasselten die Geräusche und Stimmen ungebremst auf mich nieder.
»Miranda, du darfst das deinem Vater nicht übel nehmen. Er versucht nur zu klären, was vorgefallen ist, und möchte die Verbrecher dingfest machen, die seinem kleinen Mädchen das angetan haben. Er sorgt sich mindestens genauso um dich wie ich. Nur kann er es nicht immer so zeigen.«
»Mom, du brauchst mir nichts erklären. Ich kenne Dad schon mein ganzes Leben. Jede andere Reaktion hätte mich verwundert. So ist Dad nun mal.« Meine Adoptivmutter nickte mir verständnisvoll zu, während sie sachte über meinen Arm strich. Immer darum bemüht, keinen der Schläuche zu berühren.
Meine drogenabhängige Mutter – Oder sollte ich besser von der Frau sprechen, die mich auf die Welt gebracht und sich dann aus dem Staub gemacht hatte? – hatte mich wenige Stunden nach meiner Geburt abgegeben. Danach hatten sich Carol und Jeffrey Honeychurch meiner angenommen. Okay, ich hätte es schlechter treffen können … Immerhin konnte ich so in einem wohlhabenden Elternhaus aufwachsen; all die Privilegien einer Tochter aus gutem Hause genießen.
»Miss Honeychurch, willkommen zurück! Ich bin Ihr behandelnder Arzt, Dr. Hepburn. Es freut mich außerordentlich, dass Sie wieder bei uns sind. Wir haben uns zwischenzeitlich ganz schön Sorgen um Sie gemacht. Vor allem nachdem es jetzt doch länger gedauert hat als erhofft.«
»Hallo, Dr. Hepburn, ich danke Ihnen. Wenn es Sie beruhigt, ich werde so schnell nicht wieder dorthin gehen, wo ich herkomme. Obwohl ich die Ruhe schon sehr genossen habe.« Dabei hatte ich Mühe, meine Augen daran zu hindern, sich wieder zu schließen.
»Na, Ihren Humor haben Sie anscheinend nicht verloren. Das lässt hoffen und trägt bestimmt zu einer baldigen Genesung bei. Leider muss ich Ihre Vorfreude noch etwas bremsen. Sie werden noch einige Tage bei uns im Krankenhaus verbringen müssen. Wir werden Sie nochmal komplett durchchecken und damit sicherstellen, dass Sie den Eingriff und das künstliche Koma gut überstanden haben. Wenn Sie weiter keine Fragen an mich haben, dann überlasse ich Sie wieder Ihren Eltern und schaue später nach Ihnen.«
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