„Hör auf damit“, echauffiert sich mein Vater. „Du willst mich doch nur bloßstellen!“
„Ich kann machen, was ich will, hörst du? Das ist mein Leben!“, meckere ich zurück.
Vom „positiven Denken“ und der „Notwendigkeit“
„Wenn du doch nur mal positiver denken könntest, dann würde dir vieles leichter fallen.“ Frühjahr 2006: Ich war mal wieder in Oldenburg.
„Es gibt kein positives Denken“, antwortete mir meine Mutter. Wir saßen im Wohnzimmer, sie auf dem Zweiersofa, ich im Sessel. Mein Vater lag im ersten Stock in seinem Pflegebett.
Meine Mutter hatte ihre Beine übereinander geschlagen und wippte mit dem oberen unentwegt, auf und nieder, auf und nieder. Ein Haarnetz zähmte ihr schlohweißes Haar, das sie an den Schläfen, direkt oberhalb der Ohren, mit Haarklemmen festgemacht hatte. Muttis aschfahlen Wangen waren eingefallen, ihre Nase stand dominant zwischen den ausgeprägten Wangenknochen. Der Mund schmal und blass, ihr Blick war gesenkt, die Brillengläser im goldfarbenen Gestell gräulich getönt.
Die Sonne schien hell durch die zimmerhohen Fenster in diesen sechzig Quadratmeter großen Raum. Mein Blick hinaus, über die von mir wenig geliebten weiß und rot blühenden Alpenveilchen auf der Fensterbank, erfreute sich an den hellblauen Perlhyazinthen, den ersten Glockenblumen und Tulpen. Der Rasen war nach hinten hinaus eingefriedet von einem einige Meter hohen Rhododendronwall. Den „grünen“ Daumen hatte meine Mutter in der Tat. Sie und mein Vater – er jedoch gezwungenermaßen - hatten Jahrzehnte lang viel Arbeit investiert. Aber sie wurden jedes Frühjahr und jeden Sommer von ihrem selbst angelegten Paradies belohnt.
An diesem Aprilwochenende 2006 fiel mir zum ersten Mal auf, dass das Unkraut zwischen den knorrigen Rosenpflanzen wucherte. Der Rasen, sonst auch im Winter ein grüner Flauschteppich, war fleckig geworden, Maulwürfe hatten unter ihm ihr neues Zuhause gefunden.
Wir warteten auf die Geschwister meines Vaters und den Schwager.
„Mutti“, hatte ich bei meinem Besuch im Februar davor gesagt, „ich möchte dich bitten zu akzeptieren, dass Enno, Lore und Hermann Papi besuchen kommen können. Ich habe mit Papi gesprochen. Er möchte das auch. Wer weiß, ob es nicht die letzte Möglichkeit ist.“
Mir standen die Tränen in den Augen. Ich wünschte mir nüchterner zu sein. Meine Mutter zuckte nur kurz mit den Schultern und sagte: „Na, dann.“
„Mann, bist du verbittert! Natürlich gibt es positives Denken!“, empörte ich mich während meines Aprilbesuchs. Ich erhob mich vom Sessel und fühlte wieder diese Ohnmacht in mir, wie schon so oft, wenn sie und ich zusammen waren.
„Hat dir in deinem Leben eigentlich irgendetwas Spaß gemacht, also, ich meine, so richtig Freude, dass dein Herz hüpfte?“
„Nun hör mal eben zu!“
„Wie bitte? Wer spricht da?“
„Ich.“
„Mutti?“
„Ja.“
„Quatsch. Wo sollst du denn sein?“
„Ich bin überall.“
„Klar! Wie geht es dir? – Entschuldigung, wie soll es einem in deinem Zustand schon gehen?“
„Schmerzfrei. Aber darum geht es nicht.“
„Warum dann, Mutti?
„Ich will deine Aufarbeitung nicht unkommentiert lassen!“
„Ach, Mutti, selbst jetzt mischt du dich ein.- Na gut, ich wiederhole meine Frage von damals: Hat dir im Leben irgendetwas wirklich Spaß gemacht oder war alles nur….“
„…eine Notwendigkeit. Dieses Wort kennst du ja schon, Tini.“
„Allerdings. Zur Genüge. Man muss etwas tun, um eine Not zu wenden.“
„Genau. Meine Arbeit als Medizinisch Technische Angestellte im Landeshygieneinstitut war meine Erfüllung. Obwohl - weißt du eigentlich, dass ich nebenbei noch während der Kriegsjahre für das Abitur lernte, um Medizin studieren zu können? Meine Eltern hatten mir den Besuch eines Gymnasiums nicht erlaubt.“
„Aus den Briefen zwischen dir und deinem Jan habe ich es herausgelesen. Mutti, Respekt. Du hast dich von den Machoworten dieses Jan nicht beeindrucken lassen, wie überhaupt nicht von den Jungs, die damals von den Mädchen die übliche Frauenrolle erwarteten. Du warst mächtig emanzipiert, und das schon mit 17, 18 Jahren.“
Über die Rollenverteilung von Männern und Frauen
Jan Claus, 21 Jahre alt, schrieb an die siebzehnjährige Elisabeth:
Brandenburg – Briest, den 23.3.1943
Liebe Elli!
(…) Im Augenblick bin ich nicht mal Soldat, ich zeichne von früh bis spät, wenn ich nicht weiterkomme, hole ich mir Rat bei einem älteren Kameraden, von dem ich schon viel gelernt habe. Wir arbeiten zu dritt in einem Atelier, das uns der General für unsere Zwecke zur Verfügung gestellt hat.
Hans hatte vor einigen Tagen eine größere Arbeit beendet und abgeliefert. Der Alte war begeistert und hat ihm alle Arme voll Flaschen gesteckt, Wein, Sekt und Kognac (habe ich Sekt richtig geschrieben?) Na, ist ja egal, es wurde jedenfalls sehr schön, das Zeug schmeckte uns großartig und wir waren bald in guter Stimmung. Dann wurden wir lustig und erzählten uns was. Thema: Frauen. Nicht etwa so, wie Soldaten im Allgemeinen über sie reden, sondern ganz anders. ‚Wie soll ein Mädchen sein, das man heiratet?’ Hans ist schon über 30 Jahre alt und seit 7 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Erich ist erst seit 3 Wochen glücklicher Ehemann, er ist 22 Jahre alt, darum ist es kein Wunder, daß er von seiner Frau begeistert ist.
Doch Hans liebt seine Frau auch, und wie! Das war es, was mich erstaunen und fragen ließ: ‚Nun, wie muß ein Mädchen sein, das man heiratet?’ Hans beschrieb seine Frau, wie sie war, wie sie sich änderte, und wie sie ist. Erich kennt sein Mädchen schon viele Jahre und erzählte von ihr.
Wir verglichen die Frauen, ließen alles Unwichtige weg und kamen dann darauf, wie Frauen sein müssen, mit denen man eine glückliche Ehe führen kann. Sie muß so sein: sauber, treu und fraulich. Findest Du es sonderbar, daß diese Eigenschaften die Wichtigsten sind?
Die meisten Männer heiraten nämlich aus ganz anderen Gesichtspunkten. Der eine heiratet eine, mit der er sich sehen lassen kann. Sich sehen lassen, das ist ihm das Wichtigste, warum? Weil er grauslich eitel ist. Fragt man ihn dann, ob er sich in diesem Modepüppchen einmal die Mutter seiner Kinder vorstellen kann, dann macht er vor Erstaunen den Mund auf und vergißt vor Schreck zu antworten. Er hat ja noch nicht einmal darüber nachgedacht, daß sein Modepüppchen ja nicht nur Modepüppchen sein soll, sondern daß sie als Frau auch andere Aufgaben hat.
Mit dem will ich aber nicht gesagt haben, daß ein Modepüppchen nicht auch sauber, treu und fraulich sein kann, es gibt ja auch solche, aber dann sind es eben diese drei Eigenschaften das Beste an ihr.
Siehst Du Elli, so haben Hans, Erich und ich über die Frauen nachgedacht, und ich war ganz ihrer Meinung. (…)
Sei ganz herzlich gegrüsst von Deinem Jan
P.s.: Findest Du es „fraulich“, lebende Mäuse zu secieren?
Brandenburg-Briest, den 27.Januar 1944
Liebe sonderbare Elli!
Es hat mich sehr gefreut, daß Du mir davon schreibst, wenn Du Dir Gedanken machst. Darum sollst Du auch wissen, wie ich darüber und über Dich denke.
Es ist zwar vernünftig, wenn man danach fragt: ‚Was ist sie, was kann sie und was hat sie.’ Doch Du bist ja Gott sei Dank genauso unvernünftig wie ich. Du fragst ja auch nicht, was ich kann, was ich bin und was ich hab’, oder doch? Na, was kann er denn? Allenfalls zeichnen. Was ist er denn? Ein großer Junge. Und was hat er? Seine Elli. Frag’ mal ein anderes Mädchen, ob ihr das genügen würde. Es ist mir bestimmt nicht gleichgültig, ob Deine Familie gesund ist oder nicht, ob sie fidel ist oder missmutig. Die Hauptsache ist doch, daß Du mir gefällst, und ebenso wichtig, daß ich Dir gefalle. (Was Dir an mir gefällt, ist mir egal, Hauptsache, es ist so.)
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