Distanz 137
Um sechs Uhr früh nahm der Flug in dem riesigen Airbus sein Ende. Alle an Bord waren wieder auf ihren Plätzen angeschnallt, und die Maschine begann mit dem Sinkflug auf den Flughafen von Buenos Aires. In Argentinien herrschte zu dieser Zeit wesentlich wärmeres Wetter als im winterlichen Deutschland. Bei dem Flug über den Atlantik hatten sie den Äquator überquert und waren von der Winterseite der Erdkugel auf die Sommerseite gewechselt.
In Buenos Aires würden sie sich gar nicht lange aufhalten, denn der Reiseplan sah vor, mit dem nächsten Flieger nach Santiago de Chile, von dort nach Puerto Montt und von da weiter nach Punta Arenas zu fliegen. Alles Flüge in unterschiedlichen kleinen Passagiermaschinen, die nicht länger als zwei Stunden fliegen würden. Also insgesamt fünf bis sechs Stunden Flugzeit, wobei es ungewiss war, wie lange die Wartezeiten ausfallen würden. Ihr nächster Flug startete in acht Stunden, und so lange mussten sie jetzt erst mal die Zeit totschlagen. Die anderen beschlossen, sich in den Geschäften und Restaurants des Flughafens die Wartezeit zu verkürzen. Thomas konnte sich jetzt keinen Ladenbummel vorstellen, er brauchte einfach nur ein Bett und buchte sich im angrenzenden Hotel ein, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf in ausgestrecktem Zustand nachholen zu können.
Distanz 136
In Santiago verließen sie den Flughafen auch nicht, da der Anschlussflug nach Puerto Montt nur zwei Stunden später starten würde. Sie setzten sich in eines der Flughafenrestaurants, um nach der ganzen InstantFlugzeugverköstigung wieder etwas frisch Zubereitetes zu essen. Chile erstreckte sich fast die gesamte Westküste Südamerikas bis nach Feuerland und wurde nie breiter als zweihundertvierzig Kilometer. Achtzig Prozent des Landes thronten auf der südamerikanischen Gebirgskette. Santiago lag in einem Tal, und da es sich in etwa auf der gleichen geografischen Höhe wie Buenos Aires befand, war es auch hier sehr warm. Annika konnte leider nur aus einem der Flughafenfenster die wunderschöne Aussicht auf das Gebirge genießen, welches sich wie ein Schutzwall vor dem Flughafen auftürmte. Wie gerne hätte sie hier ein paar Tage verbracht, um in den Anden wandern zu gehen.
Dr. Chakalakel erzählte ihnen beim Essen im Restaurant von diversen anderen Expeditionen, die er bereits unternommen hatte. Meistens gingen die Reisen ins benachbarte Himalajagebirge, aber auch Afrika und Sibirien hatte er besucht. Nie aber Amerika. Das war seit achtzehn Jahren überhaupt seine erste Reise so nah an den USA vorbei. Er war sich sicher, dass es dort noch Personen gab, die ihm nach dem Leben trachteten.
Letztendlich war ihr gemeinsames Gesprächsthema wieder bei Blizzard und der DDCKooperation gelandet.
„Welche Interessen stecken hinter Blizzard oder der DDC?“, fragte Annika. „Sind es wirtschaftliche, wissenschaftliche, oder wollen die einfach nur einen Dokumentarfilm drehen?“ Die letzte Frage richtete sie an ihren Vater. Da sie weiterhin englisch sprach, fühlte sich Dr. Chakalakel angesprochen, der dann auch antwortete.
„Ich glaube, von allem etwas. Ein rumänischer Kollege, mit dem ich in Afrika auf einer Tour zum Kilimandscharo war, wird auch mit dabei sein. Dr. Octavian Goga ist ein erfolgreicher und seriöser Biologe.“
„Unsere dokumentarische Arbeit soll in erster Linie nur die Forschungsarbeit visuell festhalten. Ob dann daraus ein Dokumentarfilm für die breite Öffentlichkeit wird, wurde noch nicht angesprochen“, fuhr Thomas an Tangatjens Stelle fort. „Das wird wohl davon abhängen, was wir finden.“
Annika glaubte, in Jenays Stimme Vorfreude und Unbehagen gleichermaßen zu hören.
Distanz 135
Noch zwei kurze Flüge trennten sie von Punta Arenas und der Übernachtung in einem Hotelbett. In Puerto Montt herrschte schon ein kühleres Klima, denn es lag viel weiter südlich in Chile. Am Flughafen merkten sie deutlich den Unterschied und passten sich mit dickerer Kleidung den niedrigen Temperaturen an. Auch das Wetter war viel stürmischer, und Regenmassen trommelten gegen die Flughafenfenster. Ihr Weiterflug wurde für den heutigen Tag gestrichen, und da nur einmal am Tag ein Flugzeug nach Punta Arenas ging, konnten sie zwangsläufig erst am nächsten Tag weiterreisen. Annika war es recht, denn sie war hundemüde, obwohl sie während des Atlantikflugs geschlafen hatte.
Sie checkten in das dem Flughafen nächstgelegene Hotel ein. Es war zwar nicht so komfortabel wie das, in dem Thomas zuletzt untergebracht gewesen war, aber es sah sauber und gepflegt aus. Jeder von ihnen nahm sich ein Einzelzimmer. Tangatjen war der Einzige, der auch auf seinem Zimmer blieb und sich gleich schlafen legte. Die anderen drei verabredeten sie noch zu einem Gutenachttrunk an der Hotelbar.
Annika fand es sehr schade, dass sie ihre Reise an so vielen interessanten Orten vorbeiführte, ohne dass Zeit war, sich diese anzusehen. Außerdem störte sie das Benehmen ihres Vaters, der ewig nicht ins Bett ging und sich mit Jenay zunehmend dem chilenischen Wein hingab. Sie redeten natürlich nur über das Thema „Antarktis“ und die geheimnisumwobene BlizzardOrganisation. Wieso konnten sie nicht mal über etwas anderes sprechen? Morgen würden sie sowieso alle schlauer sein. Annika warf endgültig das Handtuch und begab sich auf ihr Zimmer.
An der Bar hörte Jenay ab einer gewissen Zeit nur noch zu, und der sonst ruhige Thomas redete in einer Tour über seine Entdeckungen in Amerika und die seiner Meinung nach größte Vertuschungsaktion in der Geschichte. Jenay hatte seine eigene Theorie. Vielleicht war es Teil einer sehr alten, hochtechni¬sierten Zivilisation, die zur Zeit des Superkontinents Gondwana existierte. Was auch immer dort lag und für die Amerikaner zu groß war, um es an die Oberfläche zu schaffen, es musste sich um ein außergewöhnliches Geheimnis handeln. Für Jenay war es ein Muss, dabei zu sein, wenn man diesem Geheimnis auf den Grund ging.
Irgendwann bemerkte er, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing und Thomas nicht mehr zuhörte. Nach einer Stunde und zwei weiteren Gläsern chilenischen Weins gestanden sie es sich ein und torkelten auf ihre Zimmer.
Distanz 134
So gegen zehn Uhr trafen sich Annika und Dr. Chakalakel im Frühstücksraum des Hotels. Sie hatten sich auch schon ihr Frühstück am Buffet zusammengestellt, als sich Jenay zu ihnen gesellte. Annika merkte ihm an, dass es wohl gestern etwas später und feuchtfröhlich geworden war. Sie konnte es allerdings nur an seinen leicht unmotorischen Bewegungen und seinen Augen erkennen, die glasig wirkten. Doch seine dunkle Hautfarbe kaschierte den angeschlagenen Eindruck, sodass sie den Grad der Verkaterung nicht einschätzen konnte. Thomas’ Auftritt hingegen war eindeutig. Er war kreidebleich und fühlte sich auch so, wie er aussah. „Ich kann mich erinnern, dass ich früher wesentlich mehr vertragen habe“, brummte er, nachdem er sich zu seinen Begleitern gesetzt hatte.
Annika brauchte keinen Kater. Durch die unterschiedlichen Zeit und Klimazonen war ihr leicht schlecht, und Kopfschmerzen hatte sie auch.
Um 15.45 Uhr startete dann die Herkules, eine viermotorige, riesige ehemalige Frachtmaschine der chilenischen Luftwaffe, deren Frachtraum nachträglich mit Sitzplätzen für Zivilpassagiere bestückt worden war. Annika und ihre Freunde saßen alle in einer Reihe. Hinter ihnen saßen noch fünf weitere Fluggäste. Die restlichen Plätze waren hochgeklappt, und in den Reihen waren jede Menge Postsäcke festgebunden. Ganz am Ende, kurz vor der Heckladerampe, stand ein festgeschnallter Jeep. Das war bisher der abenteuerlichste Flug. Jedes Gefühl, in einem Urlaubsflieger zu sitzen, war nun endgültig erloschen. Das Wetter hatte sich im Vergleich zu gestern stark verbessert, aber in dieser Propellermaschine merkten sie noch einige heftige Turbulenzen.
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