1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 „Kommen Sie herein!“, sagte eine Person, die in einem der zwei Ledersessel saß und lässig ihre Beine übereinander geschlagen hatte. Diese Person war eindeutig männlich, was jeder an dem markanten faltigen Gesicht ablesen konnte. Dieser Mann war auch nicht mehr der jüngste, obwohl dies der schlanke Körperbau unter dem schwarzen Anzug nicht verriet. Es lag allein an dem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht und den Augen, von denen nur noch schwarze Schlitze zu sehen waren. Hätte jemand wie Annika einen Vergleich aus der Filmindustrie herangezogen, wäre ihr wohl Clint Eastwood in den Sinn gekommen. Allerdings hatte dieser Mann keine Haare, und an seiner rechten Schläfe zog sich eine große Narbe bis hinter das rechte Ohr.
Sein linker Arm ruhte auf der Sessellehne. Die rechte Hand lag auf dem Touchpad eines Laptops, von dessen Displayschein sein Gesicht mit bläulicher Farbe bestrahlt wurde. Auf dem Display waren mehrere Internetbrowser geöffnet. In einigen von ihnen waren Fotos von Annika und ihren Begleitern zu sehen. Der Mann widmete weiterhin seine Aufmerksamkeit dem Laptop, während sein Besuch den Raum betrat. Diese Person war nicht ganz so alt, hatte aber auch die fünfzig bereits hinter sich gelassen. Auch ihm sah man sein Alter nicht an. Sein jugendlich geschnittenes Gesicht und die glatten, blonden, halblangen Haare machten ihn jünger, als er war. Er hatte einen grauen Wollpulli an und darunter ein dunkelblaues Sweatshirt, von dem nur der Rollkragen zu sehen war. Der kahlköpfige Mann zeigte mit einer einladenden Geste zu dem noch leeren Sessel gegenüber.
„Mascha hat mir eben berichtet, dass die letzten Teammitglieder eingetroffen sind“, sagte er, während er seine linke Hand zu seiner Nase führte, um dort seine Lesebrille abzunehmen.
„Ja, die Letzten sind endlich eingetroffen ? und das noch ganz gut im Zeitplan. Ich denke, dass wir übermorgen starten können“, sagte der blonde Mann mit einem zuversichtlichen Grinsen.
„Das sehe ich auch so. Ich wollte aber mit dir über diese neuen Gäste reden. Besonders über dieses junge Mädchen!“ Er verjüngte fragend seine Augenlider.
„Wieso sollen wir sie eigentlich mitnehmen?“
„Das ist die Assistentin des Dokumentarfilmers!“, antwortete der Mann etwas unsicher.
„Sie ist die Tochter von Thomas Nowak!“ Dabei ließ er auf dem Laptop ein Bild aus der Taskleiste aufpoppen, welches Annikas Webseite und ein Foto von ihr zeigte.
„Wir betreiben hier doch keine Vetternwirtschaft, oder?“
„Ich weiß, sie ist noch recht jung, aber sie hat einige Projekterfahrung, was das Medium Film angeht. Sie war auf der Filmhochschule in Ludwigsburg, und da dachte ich mir, dass jemand wie sie unserem Dokumentarfilm sicherlich nicht schaden kann. Ein dramaturgischer Aufbau und spannende Bilder sind heutzutage auch bei Dokumentarfilmen sehr wichtig. Darüber hinaus kennt sie sich mit digitalen Spezialeffekten aus.“
Alexander Müller war gerade im Begriff, die junge Frau noch weiter in den Olymp zu heben, als der dunkel gekleidete Mann seinen Redefluss sehr unsanft unterbrach.
„Das mit dem Dokumentarfilm ist auf deinem Mist gewachsen! Ich möchte nur wissen, ob dieses Mädchen nicht unnötiger Ballast ist!“
„Sie ist zierlich und wiegt nicht viel, was den Ballast angeht“, scherzte Müller.
„Ich plane diese Mission seit fünfzehn Jahren, und mein Ziel war es nie, einen Film zu drehen. Diese Expedition ist in keiner Weise zum Vergnügen gedacht.“ Je länger der dunkle Mann sprach, umso härter wurden die Worte.
„Falls du es vergessen hast: Jeder, der hier mitmacht, kommt vielleicht nicht wieder lebend zurück. Wissen die das auch?“
Alexander Müller fühlte sich ziemlich überrollt von der Art seines Chefs, besonders weil er gedacht hatte, dass dieses Thema abgehakt sei.
„Dieser Doktor hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und Thomas Nowak wolltest du doch auch dabeihaben!“
„Mag sein, Alex. Ich möchte nur von dir wissen, ob dieses Mädchen ein Risiko darstellt?“
„Okay. Du vertraust Thomas. Ich denke, dass wir seiner Tochter auch vertrauen können. Aus dem Grund ist sie die geeignetste Assistentin. Und wir brauchen eine Assistentin. Thomas braucht sie. Für einen Dokumentarfilm reicht nun mal nicht nur einer.“ Der Mann im dunklen Anzug hörte geduldig den etwas unbeholfenen Erklärungen von Alex zu.
„Sag mir einfach einen Grund, wieso ich sie mitnehmen soll.“
Alex war selbst über sein planloses Gestammel verwundert. Er war in Erklärungsnot geraten und versuchte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche war das Finanzieren dieses Unternehmens oder der letztendliche materielle Gewinn. Alex hatte sich wieder gefangen. „Wir brauchen einen ordentlichen Dokumentationsfilm, Bernhard. Die Entwicklungskosten für diese äußerst speziellen Maschinen haben ein erhebliches finanzielles Loch in dein Unternehmen gerissen. Die Auswertung des völlig unbekannten Objekts lässt keine kalkulierbaren Gewinne erwarten. Wenn überhaupt ein Gewinn aus dem Fund gemacht werden kann. Deshalb sollten wir doch wenigstens dafür sorgen, dass wir etwas nach Hause bringen, was uns wenigstens etwas Geld einbringt.
Und wenn ich dich daran erinnern darf: Ein gut gemachter Dokumentarfilm kann gewaltig viel Geld einbringen. Er sollte allerdings von Profis gemacht werden. Vielleicht beruhigt es dich ja, dass ich mit Korbinian und Pilot Stanislav Kronos gesprochen habe. Und sie gaben mir ihren Segen.“
„Wäre nur schön gewesen, wenn du dir auch meinen Segen geholt hättest. Du trägst jedenfalls die volle Verantwortung für sie!“, sagte der kahlköpfige Mann, während er mit seinen rechten Fingerspitzen seine Schläfe berührte, als hätte er Kopfschmerzen.
„Bernhard, ich weiß, dass die Planung dieses Projekts dein einziger Lebensinhalt in den letzten neunzehn Jahren war, aber irgendwann ist es zu Ende, und dann sollte man einen Plan für die Zukunft haben.“ Alex versuchte, seine Stimme so verständnisvoll wie möglich klingen zu lassen, da Bernhard meistens sehr empfindlich auf seine wahren Beweggründe reagierte.
„Dafür hab ich ja dich“, musste er zugeben, denn er wusste, dass letztendlich nicht alles er zu entscheiden hatte. Besonders, was die Finanzierung seiner Mission anging.
Distanz 128
Ein Stockwerk darüber befand sich Thomas’ Quartier. Er hatte sich so lange damit beschäftigt, welche seiner Sachen er in die Hotelschränke einräumen sollte, dass er es aufgegeben hatte, sich über ein Nickerchen Gedanken zu machen. Normalerweise räumte er seinen Koffer sofort aus, oder er ließ alles drin. Das hing davon ab, wie lang er blieb. Doch hier war ihm nicht klar, wann die Reise weitergehen sollte. Es war nicht mal klar, wie es weitergehen würde und ob sie vielleicht dieses Hotel als Basis verwendeten. Denn wenn sie von hier direkt in die Antarktis aufbrachen, sollte er noch mal genauestens über die Ausrüstung nachdenken. In der Antarktis war jedes Gramm zu viel Gewicht, und er hatte jede Menge schwere Akkus für die Kameras dabei. Zwei externe TerabyteFestplatten für das ganze HDBildmaterial, welches in einer progressiven Auflösung von 1920 x 1080 schnell viel Speicherplatz fraß. Einen Koffer für verschiedene Objektive, Lichter und Mikrofone. Diese brauchten wiederum Akkus und Netzgeräte zum Anschließen an einen mobilen solarbetriebenen Stromgenerator. Überhaupt fühlte er sich von einer Netzteillawine überrollt. Laptop, PDA, Camcorder, Digitalkameras, Lichter, Elektrozahnbürste, MP3Player, PSP und das Mobiltelefon brauchten jeweils eines. Auf das Handy und ein paar weitere Geräte konnte er im Ewigen Eis verzichten. Aber konnte er es hier lagern? Auch bei der Bekleidung konnte er etwas abspecken.
Er entschloss sich dazu, das KickoffMeeting abzuwarten, welches allerdings erst für morgen angekündigt war. Für den heutigen Abend reichten frische Kleidung und sein Kulturbeutel. Er kramte in seinem Koffer ziellos herum. Irgendwann hielt er das Bild von Verena und Annika in seinen Händen. Es stand normalerweise in seiner Wohnung, neben seinem Bett. Es zeigte die beiden an dem Tag am Flughafen, an dem er sie gehen ließ und das letzte Mal gesehen hatte. Er machte es sich wirklich nicht leicht, sie loszulassen. Im linken Arm hielt sie die kleine, neun Jahre alte Annika umarmt, und in der rechten Hand hielt sie das rote Tagebuch. Er stellte das Foto auf das Nachtkästchen des Hotels. Thomas hätte eigentlich kein Bild von ihr gebraucht. Er hatte ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen und für Gesichter ein annähernd fotografisches Gedächtnis. Durch dieses Talent war er Fotograf geworden und seine Tochter 3DKünstlerin. Diese Gabe ließ auch Verenas Erinnerung nie verblassen.
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