Korbinian setzte sich, und da niemand sonst das Wort ergriff, konnte endlich gegessen werden. Doch zuallererst mussten sie sich zum Buffet begeben.
Wieder wollte Tangatjen den Startschuss geben, da war auch schon Adrian Kolarik an ihrem Tisch, zog einen freien Stuhl vom Nachbartisch und setzte sich ausgerechnet zwischen Dr. Octavian Goga und Annika.
„Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich Sie vom Buffet abhalte, aber Sie fünf werden die Ersten sein, die morgen früh zum Hangar gehen müssen.“
„Entschuldigung angenommen“, erwiderte Annika angetan, bevor Octavian ein schwerfälliger Seufzer herausrutschte.
„Wenn ich ehrlich bin, halten Sie uns auf. Ich habe genug Vorträge angehört.“ Mit diesem Satz erhob sich Octavian und ging zum Buffet. Alle am Tisch schauten dem kleinen, leicht untersetzten Wissenschaftler nach. Auch Adrian war überrascht, richtete seine Aufmerksamkeit aber wieder auf jene, die noch am Tisch waren. Er besprach mit ihnen die Reihenfolge, in der sie zum Containerlager gehen sollten, und beschrieb ihnen erneut den Weg. Bevor er ging, zwinkerte er Annika noch einmal zu und verschwand dann zum nächsten Tisch.
„So ein übler Bursche ist er doch gar nicht. Weiß überhaupt nicht, was Octavian hat“, stellte Annika fest.
„Ich kann Octavian verstehen. Mir gefällt der Typ auch nicht.“ Jenay hatte mit verschränkten Armen eine abweisende Trotzhaltung eingenommen, und Annika erkannte sofort, warum Jenay etwas gegen Adrian hatte. Ohne etwas zu sagen, stand Jenay auf und ging zum Buffet. Machte er ihr gerade eine Szene? Annika hätte nicht gedacht, dass Jenay so empfindlich war.
Als er nach einiger Zeit vom Buffet zurückkam, blickte sie ihm erst sehr ernst entgegen, aber als sie die zwei Schüsseln mit dem Eintopf in seinen Händen bemerkte, fiel der Schatten von ihrem Gesicht. Jenay setzte sich neben sie und schob eine der Schüsseln vor sie.
„Ist leider alles, was es noch gibt, und was es sonst noch gibt, hat die Katze.“
„Ist für die Katz’“, verbesserte Annika ihn sanft. Jenay blickte sie etwas zu lange fragend an, sodass sie unsicher wurde, ob sie ihn überhaut verstanden hatte.
„Du meintest doch das Sprichwort?“
„Sprichwort? Nein, da war eine Katze. Ach, ist nicht so wichtig. Lass es dir schmecken.“ Er lächelte sie liebevoll an.
„Danke, Jenay.“ Annika erwiderte sein Lächeln auf dieselbe Weise.
Distanz 124
Thomas fühlte sich wie in einem Raumanzug. Es fehlten nur noch ein Sauerstoffbehälter auf dem Rücken und ein Helm mit einem großen runden Sichtfenster. Beides war Gott sei Dank nicht nötig. Für die Bedeckung von Mund und Nase trug er einen Wärmeschutz, der stark an den Kragen eines dicken Rollkragenpullovers erinnerte. Über den Augen trug er eine selbsttönende Skibrille mit verbreitertem Seitenschutz. An den Bügelenden waren Stofflappen, die der Antarktisforscher bei Bedarf über die Ohren legen konnte.
„Kaum wiederzuerkennen“, sprach die weibliche Stimme hinter ihm, während Thomas sich im zwei Meter hohen Spiegel vor sich betrachtete. Er war einer der Ersten, die am nächsten Morgen zum Hangar aufbrechen mussten. Nun war er in Maschas Containerlager und durfte sich mit neuer Ausrüstung eindecken.
„Aber damit es zu keinen Missverständnissen auf dem Gletscher kommt, werde ich die Namensschilder auf der Brust und dem Rücken der Anzüge beschriften“, sagte Mascha und streckte ihm ein paar Stiefel hin, die alles andere als elegant aussahen. Thomas setzte sich auf einen Metallhocker und zog die wuchtigen Stiefel an. Sie erinnerten ihn an eine Mischung aus Militärstiefeln, Moonboots und Skistiefeln. Als Thomas wieder auf den Beinen stand, hatte er das Gefühl, ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. In diesen Schuhen musste er sich jedenfalls keine Sorgen machen, dass er sich die Füße abfror.
Plötzlich hörte er das unangenehme Quietschen der Hangareingangstür. Er blickte zu der etwa zehn Meter entfernten Geräuschquelle. Durch das einfallende Licht konnte er die eintretende Person nicht erkennen. Erst nach ein paar Schritten erkannte er seine Tochter.
„Oh wie schön, endlich mal eine Frau einzukleiden.“ Mascha warf Thomas einen neckischen Blick zu. Thomas musste bei dem Gedanken, dass seine Tochter in diesen Raumanzug gesteckt wurde, schmunzeln.
Nachdem sich Annikas Augen an den nur spärlich ausgeleuchteten Hangar angepasst hatten, stach ihr als Erstes das große Flugzeug ins Auge. Es hatte die Größe einer Herkulestransportmaschine und war fast so groß wie die Boeing 737. Wie eine Herkules verfügte sie über eine große Heckladerampe. Über diese wurde gerade ein mit Panzerketten ausgestattetes Fahrzeuge ins Innere des Fluggefährtes geladen. Annika war kein Technikfetischist und konnte nur sagen, dass dieses Fahrzeug mit einer Pistenraupe nichts zu tun hatte. Etwa fünf dunkle Gestalten sah sie um das Flugzeug schleichen und die Maschine verladen. Zwei glaubte sie, anhand ihrer Körpergröße zu erkennen. Es mussten die KlotzBrüder sein, denn nur diese beiden waren von so wuchtiger Gestalt.
Vor dem großen Flugzeug stand der garagengroße Metallcontainer. Wie bei einem Flohmarkt lag die Ware ausgebreitet am Boden oder hing an ausrangierten Kleiderständern. Dazwischen stand Mascha und grinste ihr freundlich entgegen. Annika war bereits in der Mitte des Hangars, als ihr auffiel, dass dieses vermeintliche Flugzeug keine Tragflächen hatte. Dann sah sie die acht gewaltigen Rotorblätter, die sich unter ihrem Gewicht durchbogen. Das war mit Abstand der größte Hubschrauber, den sie je gesehen hatte.
„Beeindruckend, nicht wahr?“, interpretierte Mascha Annikas Gesichtsausdruck. „Ich bin jedes Mal erstaunt, obwohl ich schon öfter eine Mil Mi26 geflogen bin. Das ist der größte in Serie produzierte Transporthubschrauber weltweit. Made in Russia!“, sagte die Russin stolz in akzentfreiem Englisch.
„Vor Kurzem dachte ich noch, wir würden mit einem Flugzeug in die Antarktis fliegen.“ In Annikas Stimme schwang unterschwellig etwas Furcht mit, was Mascha sofort merkte.
„Das ist viel sicherer als ein Flugzeug. Bei all den Gletscherspalten wäre es total riskant, mit einem derart großen Flugzeug zu landen.“
„Könnte man denn nicht ein sicheres Stück Gletscher für eine Landebahn abstecken?“ Kaum waren diese Worte über ihre Lippen gekommen, da war Annika bereits bewusst, wie naiv ihre Frage gewesen war. „Aber wahrscheinlich wäre das viel zu umständlich, bei den Schneeverwehungen und all den unberechenbaren Wetterverhältnissen.“ Schnell hatte Annika ihre Souveränität gerettet, und Mascha nickte nur zustimmend.
„Dieser Hubschraubertyp ist bestens für die Antarktis geeignet. Die Mil Mi26 wurde für Einsätze in Sibirien und bis hoch zum Nordpol entwickelt. Sie besitzt beheizbare Rotorblätter, Cockpitscheiben und Turbineneinlässe. Sie kann zwanzig Tonnen Nutzlast in über viertausend Meter Höhe befördern. Diese spezielle Mi26T verfügt über zwei Triebwerke à 8.350 Kilowatt. Mit einem antarktischen Sommer wird sie also spielend fertig.“ Maschas Augen leuchteten vor Begeisterung, und mit den Sommersprossen auf ihrer Stupsnase wirkte sie fast wie ein zu groß geratenes Kind. „Entschuldige, aber ich freue mich einfach schon sehr, mit einem dieser Babys über das Transantarktische Gebirge zu fliegen.“ Sie machte eine schwungvolle Geste zu dem Kleiderflohmarkt hinter ihr. „Wir sollten dir lieber was Schickes aussuchen, bevor ich noch anfange, dir ein paar alte Fliegergeschichten zu erzählen.“
Zwischen den Kleiderständern und Kisten erhob sich Annikas Vater, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Er trat auf sie zu und hielt in einer Hand eine der großen blauen Tragetaschen von Ikea. In dieser hatte er seine neue Ausrüstung verstaut.
„Versuch erst gar nicht, etwas Figurbetonendes zu finden.“ In Thomas’ Worten lag eine gewisse Bissigkeit, die ihr gar nicht gefiel. Sie überlegte krampfhaft, ob sie ihm vielleicht gestern Abend auf den Schlips getreten war. Vielleicht hatte er bemerkt, dass sich etwas zwischen ihr und Jenay entwickelte, und das gefiel ihm nicht. Sie blickte ihm verwirrt nach.
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