Alexander Görlach
Reclam
Meinen Freunden Burkhard und Gunter, für die Jahre gemeinsamen Drückens der Schulbank
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961901-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020580-8
www.reclam.de
Es gibt keinen Moment in der Geschichte, in der Demokratie erfunden worden oder in dem sie fertig und perfekt gewesen wäre. Immerfort stellen sich uns dieselben Fragen, etwa wie ein gutes und gerechtes Gemeinwesen aussehen sollte, in dem Menschen zufrieden zusammenleben. Der Versuch, solche Fragen zu beantworten, hat letztlich auch dazu geführt, den demokratischen Gedanken entstehen zu lassen. Der Gedanke wurde weiterverfolgt und nicht verworfen. Und auch heute noch ist die Demokratie nicht perfekt.
Das Fragen nach einem guten und gerechten Gemeinwesen berührt die für das politische Denken wichtigste Frage: Wer ist der Mensch? Ein Mensch lernt die Welt zwar von seinem Standpunkt aus kennen, ist dabei aber zeitlebens auf die anderen angewiesen. Er verbringt mit sich selbst die meiste Zeit und kann gleichzeitig ohne Mitmenschen nicht überleben. Diese Spannung bestimmt jedes politische Denken. Darf ein Einzelner über alle herrschen oder haben alle ein Recht darauf, über ihr Leben selbst zu verfügen? Begegnen sich im Gemeinwesen prinzipiell Gleiche oder ist eine Gruppe wichtiger oder besser und kann daher über andere bestimmen?
Wer nach dem Menschen fragt, fragt also nicht nur nach ihm als Individuum, sondern auch nach ihm als Teil der Gattung. Gerechte Herrschaft heißt deshalb auch, Verantwortung füreinander zu übernehmen.
Doch wo endet diese Verantwortung: vor meiner Haustür, an der Landesgrenze – oder wird der Bogen viel weiter gespannt, Verantwortung zu entgrenzen, weil alle mit allen und alles mit allem zusammenhängen? Auch wenn dem Menschen heute viele Gesetzmäßigkeiten seines Handelns bekannt sind, treiben ihn doch eine Vielzahl von Faktoren an, die ihm nicht immer bewusst sein müssen. Er funktioniert nicht wie eine mathematische Gleichung. Auch aus diesem Grund gibt es keine Formel dafür, was gute Politik ausmacht.
Herrschaft ist dann legitim, wenn sie sich als gegenüber dem Menschen verpflichtet und sich ihm verantwortlich weiß. Politik muss für das gute und gerechte Leben der Menschen eingesetzt werden. Legitime Herrschaft ist daher immer emphatisch, sozial und kosmopolitisch. Eine solche Politik dient dem Menschen, nicht umkehrt.
Freiheitliche Gesellschaften ermöglichen dem Einzelnen ein auf diese Weise gutes und gerechtes Leben. Es ist kein Zufall, dass diese Gesellschaften ausnahmslos Demokratien sind.
Die erste Sozialkundestunde, die mir als Vierzehnjährigem in der neunten Klasse gegeben wurde, begann mit einem Gedankenexperiment:
»Stellt euch vor«, sagte der Lehrer, »eure Klasse macht einen Ausflug mit dem Schiff auf dem Meer. Plötzlich sinkt euer Kahn und ihr rettet euch gerade so auf eine nahe gelegene einsame Insel.«
Jugendliche in diesem Alter sind voller Wanderlust und Tatendrang. Uns fiel es also daher nicht schwer, uns an den Strand eines warmen Eilandes in die Südsee zu versetzen. Doch der Lehrer schien unsere Gedanken lesen zu können: »Sicher denkt ihr jetzt daran, euch an der aromatischen Milch der Kokosnuss zu laben und es euch gut gehen zu lassen.« Alle nickten. »Schön und gut: Aber wer von euch kann auf eine Palme klettern und Kokosnüsse regnen lassen? Wer kann sie fangen, öffnen, und wer wird, schließlich, ihren kostbaren Saft – vergesst nicht, ihr seid umgeben von salzigem Meer und habt noch kein Süßwasser gefunden – verteilen?« Kurzum: Unser Lehrer Herr Grießhammer wollte wissen, wer von uns, wie man im jugendlichen Jargon unserer Zeit sagte, zum »Bestimmer« auf dem Eiland werden würde.
Die Situation, die wir uns vorstellen sollten, würde sich jedoch als deutlich komplizierter erweisen, als wir zuerst gedacht hatten: Unser Anlanden auf der einsamen Insel markiert den Beginn eines neuen Gemeinwesens. Ob Rettung kommen wird, ist ungewiss. Von daher ist es besser, nicht jenen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ins Auge zu fassen, sondern im Hier und Jetzt eine Ordnung zu etablieren, um uns allen das Zusammenleben in diesem, wie es die politischen Philosophen nennen, »Naturzustand«, zu ermöglichen und uns unsere Leben zu sichern. »Naturzustand« ist hier ein anderer Begriff für ein Chaos, das es zu überwinden gilt. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, welchen Weg eine junge Gemeinschaft wie die unsere auf der Insel einschlagen wird: Werden wir darüber abstimmen, wer der oder die Bestimmer werden sollen? Oder reißt sich einer von uns eine wichtige Ressource auf der Insel unter den Nagel und sichert sich so, mit ein paar treu ergebenen Vasallen, die Herrschaft über den Rest, die ein Leben in Abhängigkeit führen müssen?
Der Weg aus dem Chaos wird von denen bestimmt werden, die den anderen eine realistische, packende Vision des neuen Lebens unserer Gemeinschaft zeichnen können. Dabei wird es vor allem darum gehen, wer Sicherheit für Leib und Leben etwa gegen äußere Feinde oder die Unbilden der Natur gewährleisten kann. Es wird um Besitz-, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen gehen: Gehören die frei wachsenden Kokosnüsse der Gemeinschaft? Schlafen wir alle gemeinsam in einem großen Saal oder errichten wir einzelne Hütten auf dafür zugeteilten (von wem, für welchen Zeitraum oder welche Dauer?) Parzellen? Unabhängig davon, für was wir uns entscheiden, ist doch klar, dass jeder Ausgang aus dem Naturzustand dem Wunsch folgt, uns zusammenzuschließen, um gemeinsam das zu tun, was ein Einzelner nicht zu tun in der Lage wäre.
In einer ersten Zusammenkunft auf dem künftigen Marktplatz unserer kleinen Inselsiedlung werden meine Mitschüler für sich in Anspruch nehmen, ihre Meinung zu äußern. Indem sie das tun, betreten sie den politischen Raum, die Polis, wie es im antiken Griechenland, dem Mutterland der Demokratie, genannt wurde. Unsere kleine Zivilisation ist zu Beginn am ehesten mit diesem griechischen ›Stadtstaat‹ (so lautet eine der Übersetzungen von polis ) vergleichbar. Für diese öffentliche Rede, den Austausch von Argumenten, den Streit, über den man zu einer tragfähigen Übereinkunft kommen kann, werden Normen etabliert, die darüber entscheiden, wer wann wie lange und in welcher Form öffentlich sprechen darf. In der antiken Polis wurde beispielsweise Frauen diese Form der Beteiligung verwehrt, an der Öffentlichkeit teilzuhaben – ein Makel, der bis ins 20. Jahrhundert hinein das Ideal der öffentlichen Teilhabe aller am Gemeinwesen unterlaufen sollte: Gleichberechtigung ist und bleibt eine Aufgabe. Bei uns auf der Insel würden selbstverständlich die Mädchen und die Jungen gleiches Rederecht eingeräumt bekommen. Sollen darüber hinaus andere Kriterien eine Rolle spielen, etwa, ob jemand aus der Stadt, in der unser Gymnasium lag, oder nur aus einem der kleinen Vororte stammt? Sollte gar Religion entscheidend sein?
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