Gehen wir einmal idealtypisch davon aus, dass diese Unterschiede keine Rolle spielen würden: In diesem Falle müssten wir unserer Gemeinschaft, damit unsere Neugründung eine Zukunft beschieden sein würde, eine Erzählung geben, ein Narrativ, wie es in der Sozialwissenschaft genannt wird, also eine Geschichte, die unserem Zusammenleben einen Sinn geben kann. Wir würden uns fragen:
Warum sind wir hier gestrandet? Sind wir Ausgestoßene aus der Welt, die wir kannten, aufgrund eines Vergehens, das wir begangen haben? Oder sind wir gar Auserwählte, dazu bestimmt, diese Insel zu kultivieren und unserer neuen, kleinen Nation dadurch Ruhm und Ehre zuteilwerden zu lassen?
Es würde kein Weg daran vorbeiführen, dass wir uns in dieser Form irgendwie zu unserer Gemeinschaft verhalten.
Nach 45 Minuten endete unsere Zeit auf dieser Insel, der Gong entließ uns zurück in die wirkliche Welt, deren eigentliche Ordnung wir nun, so war zu hoffen, etwas besser zu verstehen beginnen sollten.
Demokratie im Wandel der Zeit
Eine gerechte Ordnung, so meine Grundthese, kann nur in einer Demokratie verwirklicht werden. Die Teilhabe an einer gerechten Gesellschaft umfasst politische und soziale Aspekte: Wir sollen uns in ihr in der Öffentlichkeit bewegen und an ihr teilnehmen dürfen sowie Zugang zu jenen Gütern haben, die wir zum Leben brauchen. Nur die Demokratie hat als Gesellschaftsform sowohl den Einzelnen im Blick als auch die Gemeinschaft im Blick, zu deren Aufbau und Erhalt alle beitragen sollen.
Was bedeutet nun Demokratie? Die Demokratie als Staatsform hat seit ihren Anfängen in der griechischen Polis einen weiten Weg zurückgelegt. Dabei bleibt sie hinter den Idealen, für die sie steht, zurück. Es gehört zum Eigenverständnis dieser Gesellschaftsform, dass Demokratie sich immer entwickelt und nie perfekt ist, es also zum Wesen der Demokratie gehört, Mängel wahrnehmen und klug auf sie reagieren zu können – eine Fähigkeit, die Autokratien abgeht, da diese nicht auf das Wohl des Menschen, sondern auf den Erhalt der eigenen Dominanz achten. Eine demokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaftsform, die mit sich ringt, die keine letzten Gewissheiten kennt, die mutig ist, sich Herausforderungen zu stellen. Besonders in diesem Punkt unterscheidet sie sich von Tyrannei, Despotie oder Autokratie, in der ein Einzelner allein bestimmt und herrscht und den nur sein eigenes Wohl interessiert und nicht das aller anderen. Die Erzählungen von Tyrannen, Despoten und Autokraten, ihre Narrative, handeln von Erwählung, Ausgrenzung, Unterwerfung, Sieg und Überlegenheit. Sie konzentrieren sich auf die ethnische Herkunft, Religion oder Sprache jener Mehrheit, zu der sie selbst gehören. Aufgrund dieser Merkmale behaupten sie, dazu berufen zu sein, über die anderen in der Gesellschaft zu herrschen.
Eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit hat nichts mit jener Demokratie, wie wir sie heute kennen, zu tun. In ihr wird über Herrschaft nicht aufgrund äußerer Merkmale von Menschen entschieden. Es geht vielmehr darum, Mehrheiten für bestimmte Politikentwürfe zu gewinnen: Gezeigt werden muss, dass diese Entwürfe für die Gemeinschaft relevant sind. Dabei kann die Mehrheit von heute die Minderheit von morgen sein. Denn Menschen mögen in der einen Frage so, in der anderen wiederum ganz anders denken und entsprechend abstimmen. Auch politische Parteien, die das politische Denken vieler in sich bündeln, können ihre Vorstellungen im Lauf der Zeit ändern und bestimmten Entwicklungen angleichen. Eine Demokratie, in der solche politischen Parteien tätig sind, ist daher flexibel und beweglich, sie zementiert die gesellschaftliche Ordnung nicht, schon gar nicht aufgrund zufälliger Merkmale, für die die Betreffenden nichts können. Denn niemand sucht sich aus, als wer er geboren wird, sei es als Frau oder Mann, als Gesunder oder Kranker, als Armer oder Reicher, als Hetero-, Homo- oder Transsexueller. Der Weg aus dem Naturzustand in eine demokratische Gesellschaft führt über die Ausschaltung solcher Unterschiede. Entscheidend bei diesem Ausgang aus dem Naturzustand, den Thomas Hobbes(1588–1679) als »bellum omnium contra omnes«, als »Krieg aller gegen alle« bezeichnet, ist der Wille zur Anerkennung der Freiheit jedes Menschen. Dieser Gedanke ist modern: Er wurde im Zeitalter der Aufklärung entwickelt, dessen Grundlagen aber bis ins Altertum zurück reichen.
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