„Wie ist das passiert?“, fragte Annika.
„Vor zwei Wochen habe ich ihn entdeckt, und vor einem Monat war noch alles in Ordnung. So ein tiefer Riss hat mit unterschiedlichen Flussgeschwindigkeiten im Eis nichts mehr zu tun. Und auch nicht mit unterschiedlichem Gefälle des Untergrunds. Jedenfalls nicht so plötzlich. Der Felsen beginnt erst in viertausend Metern Tiefe.“ Er biss etwas nervös auf seiner Unterlippe herum, bevor er weiterredete.
„Es muss ein seismisches Beben gewesen sein. Jedenfalls ist der Riss nicht besonders alt, und er wird bald wieder vom Gletscher zugedrückt, daher ja die ganze Eile.“ Dieter konzentrierte sich wieder auf das Fliegen. Er steuerte die Twin Otter in einer weiteren Schleife um die Seesternstation. Dicht unter ihnen sausten die zwei Mil Mi26 vorbei und setzten zur Landung hinter dem Stationsgebäude an. Während Dieter mit dem Flugzeug seine Bahn zog, hatte Annika einen wunderschönen Ausblick auf die senkrecht landenden Hubschrauber. Mit ihren mächtigen Rotorblättern verwandelten sie die Schneelandschaft in eine weiße Wolke, die über die McGriffinStation wirbelte. Ob sie noch einmal eine Gelegenheit bekam, solch eine bildgewaltige Szene zu filmen, bezweifelte Annika. Wie gut, dass Herr Müller nicht sah, was er da gerade verpasste. Sie wollte den Piloten gerade fragen, wo sie landen würden, doch Dieter kam ihr zuvor.
„Da vorne ist meine Landebahn. Habe ich erst vor zwei Wochen frisch abstecken müssen. Die dicke Gletscherspalte hat mir meine alte Landebahn in zwei Teile gerissen. So etwas ist ziemlich fies, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.“
„Können Sie denn hier nicht überall landen? Sieht doch alles recht eben aus“, fragte sie.
„Der Schein trügt. Von hier oben sind feine Risse und Unebenheiten fast nicht zu erkennen. Selbst mit meiner kontrastverstärkenden Gletscherbrille sieht man nicht alles.“ Demonstrativ tippte er sich an die übergroße Brille.
„Dazu kommt, dass kleine Gletscherspalten oberflächlich wieder zufrieren, aber keine Angst, der Hügel, auf dem wir landen, ist sicher. Außerdem bremst er zugleich unsere Landung, und beim Start verbrauchen wir nicht so viel Sprit. Einfach den Hügel runter und ab in die Luft!“ Dieter war kein Mensch für Small Talk, aber wenn es ums Fliegen ging, kam er in Fahrt.
Wenige Sekunden später zog Dieter die Nase der Twin Otter steil in die Höhe, sodass sie für kurze Zeit den Boden nicht mehr sehen konnten. Obwohl Annika in den letzten Tagen genügend Starts und Landungen in den verschiedensten Flugzeugtypen mitgemacht hatte, war keiner dieser Anflüge so nervenanspannend wie dieser. Als die Maschine mit einem kräftigen Ruck aufsetzte, bekam Annika keine Luft mehr. Nun folgte eine brutale Rüttelorgie. Sie blickte Dieter verängstigt an, doch der schien völlig entspannt. Der Boden war alles andere als weich und eben. Als sie langsamer wurden, entspannte sich Annika. Dann erschütterte ein dumpfer Knall gefolgt von einem schrillen metallischen Knirschen die Pilotenkanzel. Selbst Dieter zuckte zusammen, und Annika standen von einer Sekunde zur anderen die Haare zu Berge.
„Zum Teufel! Was war denn das?“, platzte es lautstark aus ihr heraus.
„Wahrscheinlich ein Eisklumpen, den wir mit einer Kufe an den Rumpf geschleudert haben. Dass wir weiterrutschen, ist aber ein gutes Zeichen.“ Wenige Meter weiter blieb die Twin Otter stehen. Da sie einen Hügel hochgerutscht waren, stand die Maschine schräg nach hinten gekippt. Dieter betätigte einen Kippschalter, der unter einer Sicherheitskappe versteckt lag. Eine Harpune schoss unter der Flugzeugnase hervor und bohrte sich ins Eis.
„So, der Anker wäre gesetzt“, sagte Dieter, während er seine Gurte öffnete, sein Headset abnahm und dann die Motoren abschaltete. Annika bemerkte, wie das Flugzeug begann, langsam zurückzurutschen, aber dann von dem Seil gebremst wurde. Sie verließen das Flugzeug über eine kleine Leiter, die aus der Seitentür hing. Absolut klare, unverschmutzte Luft strömte durch Annikas Lungen, und wieder wurde ihr bewusst, was für ein unverdorbener und reiner Ort die Antarktis war. Mittlerweile war es Mittag. Die Sonne stand nicht gerade hoch am Firmament, aber sie würde dafür auch nicht untergehen. Den ganzen antarktischen Sommer nicht. Im Moment wehte auch kein Wind, sodass Annika die Sonnenstrahlung deutlich spürte. Hier, auf der WilkeslandHochebene, war ein deutlich milderes Wetter, und es würde nicht lange dauern, bis sie ihre Jacke aufmachen musste und vielleicht sogar ablegen konnte.
Von dem Hügel aus konnte sie sich ganz gut einen Überblick verschaffen. Sie waren parallel zur großen Gletscherspalte gelandet, aber gut zweihundert Meter davon entfernt. In etwa sieben bis achthundert Metern Entfernung lag die McGriffinAntarktisstation. Sie befand sich fast direkt neben dem Spalt. Einer ihrer dreigliedrigen Containerextremitäten ragte sogar ein paar Meter über dem Schlund hinaus. Wenn der Riss nur hundert Meter weiter rechts entstanden wäre, wäre von dem Seestern sicherlich nichts übrig geblieben. Auf der anderen Seite der Station standen Helena und Leandra. Annika konnte von ihrer Position deutlich erkennen, wie orangefarbene Männchen um die Helikopter wuselten.
„Brauchen Sie meine Hilfe? Ansonsten würde ich zu den anderen gehen“, rief sie Dieter zu.
Der Pilot kauerte vor der rechten Kurve der Twin Otter und drehte sich blitzschnell zu ihr hin.
„Nein, nein! Bleiben Sie hier! Wir dürfen doch nur aneinandergeleint größere Strecken auf dem Eis gehen. Außerdem sind wir nur zu zweit, und erst mit drei Leuten ist es akzeptabel.“
„Dann müssen wir warten, bis die zu uns kommen?“ Annika gab sich keine Mühe, ihre Frustration zu verbergen.
„Vorschrift ist Vorschrift, auch wenn es manchmal überzogen wirkt. Wir werden aber gleich abgeholt. Schließlich brauchen sie ihren Sprit.“ Dann richtete Dieter seine Aufmerksamkeit wieder auf die rechte Kufe der Twin Otter.
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