Thomas glaubte ihm jedes Wort. Der Einundsechzigjährige hatte es mit einer trockenen Gelassenheit gesagt, die keinen Raum für Humor oder Sarkasmus ließ.
„Und was ist mit Ihnen? Sie sind auch nicht wirklich hier, um einen Dokumentarfilm zu drehen, nicht wahr?“
Thomas wurde plötzlich klar, dass dieser Mann wahrscheinlich mehr über ihn wusste, als er gedacht hatte.
„Sie haben recht, mich treibt ein ähnlicher Grund wie Sie an, aber ich werde trotzdem die Tätigkeit, für die ich angeheuert wurde, gewissenhaft ausüben.“
„Das haben Sie schön gesagt, aber das ist mir auch egal. Mir geht es nur darum, dass Sie mit der gleichen Leidenschaft wie ich dieses Geheimnis aufklären wollen. Egal, wie viel wir riskieren müssen. Sind Sie dafür bereit?“ Dr. Seeger durchbohrte Thomas dabei mit einem sonderbar stechenden Blick. Thomas konnte nur an seine Tochter denken. Wäre sie nicht dabei, wäre er zu allem bereit.
„Ich versuche auch seit achtzehn Jahren, Antworten auf das Verschwinden meiner Frau zu finden, und bin bereit, für diese Antworten viel zu riskieren, aber ich habe noch meine Tochter, und alleine ihretwegen kann ich nicht alles riskieren.“ Thomas versuchte, genauso emotionslos wie sein Gegenüber zu sein, doch das gelang ihm nicht.
„Dass Ihre Tochter mitgeht, war nicht meine Entscheidung. Jetzt ist sie dabei, aber ich werde auf sie keine Rücksicht nehmen.“ Thomas begann sich zu fragen, wie weit sein Gegenüber wohl gehen wollte.
„Wenn es Sie beruhigt, wir haben die modernste Technik und die besten Leute, die man für Geld kaufen kann. Glauben Sie mir, die meisten bei dieser Mission sind bereit, alles zu geben. Das wird dann schon reichen.“ Wie Thomas die letzten zwei Sätze verstehen sollte, wusste er nicht. Doch an diesem Tag noch sollte er sich ein klares Bild davon machen, mit welchen Leuten er es hier zu tun hatte.
Korbinian Regenfus scheuchte den Rest der Mannschaft wieder in den Helikopter zurück. So endete Thomas’ erstes Gespräch mit Dr. Bernhard Seeger, und er nahm wieder seinen Platz im zweiten Hubschrauber ein. Wenige Minuten später, nachdem die Rotorblätter die nötige Hubgeschwindigkeit hatten, flogen Helena und Leandra wieder über das offene Meer.
Distanz 115
Annika war eine Viertelstunde, nachdem sie gestartet waren, von Mascha samt ihrer Kameraausrüstung ins Cockpit gerufen worden. Mascha war zwar nur die Copilotin, durfte aber dennoch fliegen, da ihr Kollege, Barenko Rebulsky, im Gegensatz zu Mascha nicht so versessen darauf war. Er saß ziemlich lässig in seinem orangefarbenen Schneeanzug, dessen Oberteil er einfach nach unten geklappt hatte. Der siebenundvierzigjährige, dunkelhaarige Lockenkopf qualmte eine Zigarette. Er konnte gut Englisch und quatschte ununterbrochen in Annikas Filmaufnahmen. Aber das störte sie nicht. Gewissermaßen unterstrich der russische Akzent die Atmosphäre dieser Reise. Das Einzige, was Annika beim ersten Kontakt mit dem Russen verunsicherte, war die vernarbte Haut, die unter der Thermokleidung hervortrat. Als hätte er starke Verbrennungen erlitten.
Der Grund, warum sie im Cockpit mit ihrer HDKamera gerufen wurde, zeigte sich jetzt am Horizont. Die ersten Eisberge tauchten auf. Jede Menge kleinere Eisschollen waren wie vereiste kleine Inseln schon unter ihnen vorbeigezogen. Das Auftreten der weißen Riesen, die wie Backenzähne aus dem Meer stachen, kündigte auch an, dass der antarktische Kontinent nun vor ihnen lag. Annika war vom Anblick der Eisberge beeindruckt.
Auch Thomas war fasziniert. Vor ihnen flog etwas seitlich versetzt in zweihundert Metern Abstand Helena, und vor dieser Kulisse aus Eisbergen ergab das Ganze ein fantastisches, abenteuerliches Bild. Je weiter sie in die südliche Richtung flogen, desto mehr verschmolzen die treibenden Eistrümmer zu einem Ganzen, dem antarktischen Kontinent. Irgendwann war kein Meer mehr zu erkennen, und die zwei Helikopter flogen über das völlig mit Eis bedeckte Palmerland, den halbinselartigen Ausläufer der Antarktis. Auf der linken Seite ragte der Mount Vinson, der höchste Berg der Antarktis, fünftausendeinhundert¬vierzig Meter in die Höhe. Auch er zog langsam an ihnen vorüber.
Thomas hatte nicht bemerkt, dass sie im Steigflug waren, seitdem sie den antarktischen Kontinent überflogen. Sie hatten bereits eine Höhe von zweitausend Metern über dem Meeresspiegel, aber die Höhe zum Boden schien unverändert. Vom Mount Vinson betrug die Entfernung zur Kohnen2Antarktisforschungsstation noch knapp tausend Kilometer. Etwa achthundert Kilometer im Landesinneren ruhte sie in zweitausendsechshundert Metern Höhe auf dem Rockefeller Plateau. Noch vier Stunden Flug.
Trotz einiger kleiner Luftturbulenzen, welche die Helikopter immer wieder durchschüttelten, versuchten die meisten zu schlafen. Die zwei MilMi26Hubschrauber benötigten von den südlichen Shetland Islands acht Stunden Flugzeit, um zur KohnenStation zu gelangen. Für die meisten doch zu lange, um durch die kleinen Sichtfenster die faszinierende Umgebung zu bestaunen.
Distanz 114
Mascha hatte Annika wieder in das Cockpit gerufen, damit sie den Anflug auf die Kohnen2Antarktisforschungsstation filmen konnte. Auf dem endlos weiten Rockefeller Plateau wirkte die Station nicht besonders beeindruckend. Von Nahem sah Kohnen 2 aus wie sechs gleich große, graue Würfel. Die Klötze, die hintereinander in zwei Reihen standen, zierten mehrere lange Antennenmasten und eine kleine Kuppel, in der sich wahrscheinlich eine Satellitenschüssel versteckte.
Die weiße Hochebene, die sich vor ihnen über den gesamten Horizont erstreckte, verdeutlichte im Kontrast zur vergleichs¬weise kleinen Station deren Abgelegenheit und Isolation. Kohnen 2 repräsentierte das einzige Häufchen Zivilisation im Umkreis von mehreren Tausend Kilometern Eis.
Hundert Meter neben den Stationsgebäuden hatte das KohnenPersonal mit Schneeraupen den Boden zum Landen begradigt. Am Rande der Landefläche erwarteten sie bereits mehrere Personen in Antarktisschutzkleidung, die dem Aufbau der orangefarbenen Thermokleidung stark ähnelten.
Einer dieser Personen war Oliver Tielago, ein großer, breitschultriger Mann mit Vollbart. Er war der Stationsleiter der deutschen Forschungsstation, die sich hier oben in der Mitte des Rockefeller Plateaus mit Eiskernbohrungen beschäftigte. Die meisten Antarktisforschungseinrichtungen befanden sich aus Versorgungsgründen an der Küste. Außerdem war der antarktische Sommer dort wesentlich milder als an diesem rauen Ort, der permanent mit den katabatischen Fallwinden zu kämpfen hatte.
Allerdings hatten Eiskernbohrungen im Küstenbereich wenig Sinn, und die unberechenbaren Wetterbedingungen ließen Flüge ins Inland oft zu einem Glückspiel werden. Zudem war es ein guter Ausgangspunkt für Eiskernbohrungseinsätze, weil hier das Risiko für die Höhenkrankheit nicht so groß war.
Für Dr. Seeger war es der perfekte Ausgangsort für seine Expedition.
Wie sich die beiden Männer begrüßten, zeigte allen, dass Oliver Tielago nicht einfach ein Mensch war, der auf Dr. Seegers Gehaltsliste stand. Auch der zweite Mann, dem Dr. Seeger energisch die Hand schüttelte, musste wohl ein guter Bekannter sein. Sein Name war Dieter Hase. Er war einer der ältesten Bekannten von Dr. Seeger, wie Alexander Müller Annika verriet. Dieter hatte seine Kapuze nicht über den Kopf gezogen, und so zeigte er blonde Haarstoppel, die von großen Geheimratsecken langsam verdrängt wurden. In seinen mageren Gesichtszügen waren ähnlich lange Bartstoppeln, und die dicke kleine Minusbrille verlieh ihm einen nicht geraden gesunden Gesamteindruck. Er war vierundvierzig, sah aber älter aus als Dr. Seeger.
Alle Expeditionsteilnehmer hatten über die Laderampen der Helikopter das Eis betreten. Jeder von ihnen trug seine mit Fellrand besetzte Kapuze über dem Kopf und hatte seine getönte Schneeschutzbrille auf. Ohne die aufgenähten Namensschilder konnte man die Teammitglieder nun fast nicht mehr unterscheiden. Bis auf den Verpflegungssupervisor und Annika, die deutlich kleiner war als alle anderen. Alle vom Seegerteam waren von Korbinian aufgefordert worden, in das nahe gelegene Stationsgebäude der KohnenStation zu gehen. Als Tangatjen mit seinen Füßen das Eis betrat, konnte er seine Begeisterung kaum verbergen. Thomas, Jenay und Octavian hingegen hatten das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Noch nie hatte Annika so klare und saubere Luft eingeatmet. Sie fühlte sich fast etwas schwindelig. Ansonsten fand sie es gar nicht so kalt wie erwartet. Im Gesicht spürte sie eine Spannung, die von der Kälte herrührte, aber sie hatte in manchem deutschen Winter Schlimmeres erlebt. Am Horizont waren schemenhaft Berge zu erkennen, die sich vom klaren Himmel kaum abhoben. Ob das das Transantarktische Gebirge war?
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