Sie liefen alle an Oliver Tielago vorbei, der jeden Einzelnen mit Nicken begrüßte. Die russische Hubschrauberbesatzung kümmerte sich um das Betanken von Helena und Leandra.
Im Inneren des Stationsblocks C konnten sich die zweiundzwanzig Gäste ihrer äußersten Schutzkleidung entledigen. Annika fühlte sich gleich wieder wie eine Frau und nicht mehr wie ein Teddybär. Ihr fiel auf, dass sich innerhalb der Expeditionsgruppe bereits kleinere Untergruppen gebildet hatten: Sie, ihr Vater, Jenay, Dr. Chakalakel und Octavian waren eine, und zeitweise gesellten sich Herr Müller und Adrian Kolarik hinzu. Eine andere Gruppe setzte sich aus der technischen Crew zusammen, die sich darum kümmerte, wie sie nach unten kommen würden. Dann gab es noch zwei, drei andere Gruppierungen, von denen sie Fachgebiet und Namen vergessen hatte.
Ein Besatzungsmitglied der KohnenStation öffnete eine Schiebetür zu einem etwas größeren Raum, in deren Mitte sich zwei lange Metalltische befanden. Auf den Tischen standen bereits tiefe Teller und Besteck. Am Ende des Speisesaals war die Ausgabetheke zu erkennen, welche den Raum von der angrenzenden Küche abtrennte. Auf der Theke fand sich ein reichhaltiges Angebot an Speisen. Salate, Antipasti, eine Käseplatte, Chickenwings, Rollbraten, Nürnberger Bratwürste, ein großer Topf mit der Aufschrift „Gulaschsuppe“, Nudeln, Reis, Fisch, panierte Kalamariringe, Obst und noch einiges mehr. Annika war verblüfft über die Reichhaltigkeit des Buffets. Sie hatte höchstens eine Gulaschsuppe erwartet. An den erstaunten und zugleich glücklichen Gesichtern ihrer Mitstreiter konnte sie erkennen, dass es den anderen ebenso erging.
„Wegen des körperlich anstrengenden Klimas am Südpol verliert jeder schnell Gewicht, daher ist Nahrungsaufnahme sehr wichtig. Und am besten essen Mann und Frau, wenn’s schmeckt.“ Da Oliver Tielago bekannt war, dass einige der Anwesenden kein Deutsch verstanden, aber alle Englisch, hatte er sich nicht erst die Mühe gemacht, auf Deutsch zu sprechen. „Bitte bedienen Sie sich, ist alles von Blizzard gesponsert.“ Bei dem Namen „Blizzard“ wurde Thomas besonders aufmerksam. Auch Annika wunderte sich über die Vertrautheit und die Offenheit, mit der er den Namen „Blizzard“ in den Mund nahm. Dass Dr. Seegers Einfluss und Verbindungen bis in die Tiefen der Antarktis reichten, hatten sie schon mitgekriegt, aber scheinbar war die gesamte Station ein geheimer BlizzardStützpunkt. Dr. Seeger hatte die vergangenen achtzehn Jahre gut genutzt, um sich auf diese Sache vorzubereiten. Aber wo war er jetzt gerade? Wahrscheinlich weilte der ehemalige Bauunternehmer nicht das erste Mal hier und hatte sich in sein privates Quartier zurückgezogen. Sehr gesellig hatte Dr. Seeger auf Annika bisher nicht gewirkt.
Distanz 113
Nachdem sich alle etwas vom Buffet geholt hatten, wurde sogleich an den Tischen gegessen. Thomas und sein Anhang hatten sich um ein Ende der zwei Tische gesetzt. Alle außer Thomas hatten eine vertraute Person gegenüber von sich sitzen. Thomas’ Gegenüber war Sevrem Pajak, neben ihm Karlos Beretta, beides Bergbauingenieure. Thomas hätte am liebsten neben dem Systemadministrator Peter Wyssmann gesessen und sich weiter mit ihm über den technischen Ablauf der Mission unterhalten. Vielleicht konnte er den zwei Bohringenieuren auch interessante Informationen entlocken.
„Diese große Gletscherspalte erspart uns jede Menge Arbeit. Auch wenn es der Cavecrawler in sechs Stunden in diese Tiefe schaffen könnte, würde es Ewigkeiten dauern, bis wir genügend Leute und Ausrüstung da runter geschafft hätten“, sagte Sevrem Pajak, dessen polnischer Akzent keinen Zweifel aufkommen ließ, woher er stammte. Er war ein großer schlanker Mann mit dunklen langen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er verkörperte das genaue Gegenteil seines Kollegen Karlos Beretta. Der Italiener war halb so groß, sehr breit gebaut, und statt einem Überschuss an Haarlänge hatte er einen dicken Schnauzbart, der bei geschlossenem Mund sogar etwas seine Unterlippe verdeckte.
„Außerdem ist das Bohren in einer Eisdecke noch mal eine völlig andere Herausforderung als das Bohren durch Gesteinsschichten. Und bisher hat auch niemand ein so großes und tiefes Loch in die Antarktis gebohrt“, sagte Karlos in gut verständlichem Deutsch.
„Wo liegen denn die Herausforderungen?“, wollte Thomas etwas genauer wissen.
Karlos schaute ihn etwas verwundert an.
„Die enorme Eisschicht der Antarktis ist nur aus gefrorenem Wasser.“ Karlos machte bewusst eine Pause, damit Thomas das Problem selbst erkannte. Thomas war über das breite Lächeln, mit welchem ihn der Italiener angrinste, so paralysiert, dass er nicht schnell genug antwortete.
„Hier schmilzt einfach alles verdammt schnell wieder zu. Auch die große Gletscherspalte ist in spätestens zwei Wochen Geschichte. In dieser Eiswüste hat einfach nichts wirklich Bestand, außer es ist sehr tief von der Eisschicht umschlossen. Dann wiederum ist es konserviert für die Ewigkeit. Paradox, nicht wahr?“
Trotz dessen hektischer Art versuchte Thomas, die Worte des Bergbauingenieurs zu verstehen.
„Der Cavecrawler ist deshalb nicht einfach eine Tunnelgrabmaschine, sondern er schwimmt regelrecht durch die Eisschicht. Mit seinem beweglichen Laserbohrkopf und dem Kettenantrieb kann er sich jederzeit in alle Richtungen weitergraben, während das geschmolzene Wasser hinter ihm einfach wieder zufriert. Wir hätten den Cavecrawler eigentlich Untereisboot nennen sollen“, sagte Karlos mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.
„Zu Beginn des Projekts waren wir noch damit beschäftigt, ein Tunnelfahrzeug zu entwickeln. Die Bestrebung, ein dauerhaftes Tunnelsystem zu erschaffen, verwarfen wir erst später“, versuchte Sevrem die Namenskreation zu verteidigen.
„Außerdem ist der Energieverbrauch des Cavecrawlers noch viel zu hoch, um in einer vernünftigen Zeitspanne bis zum Zielort hin und zurück zu gelangen. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf eine Testfahrt mit unserem Baby.“ Mit diesen Worten strahlte er Karlos an, der ihm seine Vorfreude mit einem hektischen Nicken bestätigte.
Thomas hingegen hoffte nur, dass er als Kameramann diese Fahrt nicht von innen miterleben musste.
Distanz 112
Nachdem alle gegessen hatten, erkundeten Annika und Jenay die Station. Beide hofften, ein ungestörtes Plätzchen zu finden, aber weil sie mit den vierundzwanzig anderen Reisenden die kleinen Unterkünfte dieser Station überschwemmt hatten, waren überall Menschen. Mit dem stationierten Personal kamen sie zurzeit auf über dreißig Personen. Die Anlage war für ein anspruchsloses Dutzend ausgelegt. Einige Verbindungsgänge, in denen keine Poster oder Plastikpflanzen standen, ähnelten den engen Räumen eines UBootes. Schweißnähte und dicke Schrauben stellten sich ungeniert zur Schau. Der Rest der Station, den Gäste sehen durften, erinnerte dank der Einrichtung an eine Ferienhütte. Im Aufenthaltsraum hingen sogar Gardinen.
Da die Station fast aus allen Nähten platzte und sich wegen der überall unterhaltenden Parteien ein immer lauter werdender Geräuschpegel aufbaute, beschlossen Annika und Jenay, ihren orangefarbenen Außenschutz anzulegen, um Dr. Chakalakel zu besuchen, der sich außerhalb der Station aufhielt.
Sie hatten fast zweimal die komplette Station umrundet, als sie dann endlich den Inder auf einem kleinen Schneehügel entdeckten. Trotz der orangefarbenen Schneebekleidung war Dr. Chakalakel leicht zu übersehen. Das lag zum einen an der grell reflektierenden weißen Schneelandschaft und zum anderen daran, dass sich das Wetter verändert hatte. Schneeverwehungen zogen sich wie kleine Flüsse über den antarktischen Boden, und es wurde zunehmend nebliger. Die Berge, die sie bei ihrer Ankunft noch sehen konnten, waren jetzt außerhalb nur noch graue Schemen, und die knallige Farbe der Schutzanzüge wirkte stark entsättigt. Tangatjen Chakalakel wirkte vor dieser endlosen weißen Schneekulisse wie der letzte Mensch auf Erden.
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