1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Annika war froh, dass man ihnen bei diesem Flug nichts zu essen servierte. Sie umklammerte Jenays Hand und lächelte ihn gequält an. Sein Gesichtsausdruck wirkte ebenso verzerrt wie ihrer. Thomas hielt die Augen geschlossen, schlief aber nicht, und Tangatjen sagte nicht wirklich überzeugend: „Das sind Militärmaschinen. Die halten noch viel mehr aus.“
Als sie sich im Landeanflug auf Punta Arenas befanden und die Herkules in eine tiefere Luftschicht stieß, wurden sie von den heftigsten Windstößen erlöst. Schließlich setzte die Herkules auf dem kleinen Flughafengelände von Punta Arenas auf.
Distanz 133
Freundlicherweise hatte das chilenische Flughafenpersonal Gepäckwagen zur Herkules gebracht. Sie schnappten sich zwei und beluden sie mit ihren Koffern, dann ging es zu Fuß quer über das Rollfeld zum Hauptgebäude des Flughafens. Ein eiskalter Wind peitschte über die großflächige Flugplatzebene. Das Wetter war hier noch mal deutlich kälter, und der Wind verstärkte den Eindruck. Busse, die Fluggäste zu ihren Maschinen brachten, suchte man vergebens. Aber auch große Jets waren nirgends zu entdecken. Sie versuchten, im Windschatten von allerlei Transportflugzeugen zu bleiben. Tanklaster und Transporter rollten zwischen den Flugzeugen umher und behinderten sie dabei, zügig voranzukommen. Das Gelände machte nicht den Eindruck, für Touristen angelegt worden zu sein. Tangatjen Chakalakel bestätigte dies auf Annikas Frage hin. Dies war nur ein kleiner Güter und Frachtflughafen. Nach Blizzards Vorgaben sollten sie nicht zum regulären Zivilflughafen in Punta Arenas fliegen, sondern hierher. Annika hatte den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis über ihr Kinn gezogen und versuchte so, ihren Hals und ihr Gesicht vor dem Wind zu schützen. Die kurze, gefütterte Lederjacke hielt den Körper normalerweise ganz gut warm, aber dort, wo Annikas Bauch und Hüfte leicht frei lagen, griff der eiskalte Wind unbarmherzig zu. Sie schimpfte mit sich, nicht schon in Puerto Montt ihren Mantel aus dem Trolly ausgepackt zu haben. Mitten auf dem Rollfeld war es jetzt zu umständlich. Sie musste durchhalten, bis sie das Hauptgebäude mit dem kleinen Tower erreicht hatten. Doch dann wurde ihr Weg versperrt. Ein Traktor zog eine Herkules direkt vor ihnen zwischen sie und das Hauptgebäude. Ein chilenischer Flughafenarbeiter mit neongelb gestreifter Sicherheitsweste schrie gegen den Wind in einer Sprache, die keiner von ihnen verstand. Doch sie wussten instinktiv, dass er wollte, dass sie Abstand hielten. Während sie also warten mussten, drehte der Wind scheinbar extra noch mal auf. Vielleicht kam es Annika auch nur so vor. Sie ließ ihren Trolly los und versuchte, den sensiblen Anschlussbereich zwischen ihren Jeans und der Lederjacke mit beiden Armen abzudecken. Plötzlich schob jemand von hinten ihre Arme zur Seite und umschlang mit etwas Weichem ihre Hüfte. Mit einem Schulterblick konnte sie die Arme Jenay zuordnen. Als sie an sich herunter sah, erkannte sie, dass er im Begriff war, seinen weichen Wollpullover um ihre Hüften zu binden. Vor ihrem Bauchnabel machte er einen Knoten und hatte dabei von hinten seine Arme um sie geschlungen. Als sie sich dann zu ihm umdrehte, hatte er sich schon auf einen Verlegenheitsabstand gebracht. Sie lächelte ihn dankbar an, und er erwiderte ihr Lächeln verlegen. Dabei schloss er den Reißverschluss seiner Outdoorjacke. Voller Erstaunen fiel ihr auf, dass er seinen Pullover gerade noch getragen hatte.
„Ist dir jetzt nicht kalt?“, fragte Annika.
„Die Jacke ist dick genug. Hält sehr schön warm“, schrie er gegen den Motorenlärm der Herkules an.
„Hey, ihr Turteltauben, der Weg ist wieder frei, es kann weitergehen“, rief Thomas ihnen schonungslos zu. Richtig blass konnte Jenay nicht werden, aber immerhin dunkelrot.
Sie hatten die Herkules weit hinter sich gelassen, und das Flughafengebäude füllte ihr Blickfeld. Es war nicht sehr groß, vielleicht sechs Meter hoch. Darauf thronte der Tower, der eher ein flacher runder Zylinder war, mit Fenstern rundherum. Das Gebäude war wohl mal ganz dunkelrot gestrichen worden. Nach dem ersten Anstrich war hier aber seit längerer Zeit keine weitere Verbesserungsarbeit durchgeführt worden. Von der roten Farbe waren nur noch Flecken und meterlange Streifen übrig. Weiter südlich, etwas abgesetzt vom Hauptgebäude, standen mehrere halbrunde Wellblechhallen, die in ihrer Höhe das Hauptgebäude um etwa vier bis fünf Meter überragten. Es handelte sich um vier Hangars, vor denen zwei Flugzeuge standen, die aus ihrer Position gesehen die Größe einer Boeing 737 hatten. Thomas stellte erstaunt fest, dass diese Fluggeräte keine Flügel, sondern sechsblättrige Rotoren hatten. Es waren die größten Hubschrauber, die er je gesehen hatte, und wäre er nicht an die anderen gebunden, dann hätte er sich auf den Weg gemacht, sie sich genauer anzusehen. Doch der Wind trieb sie so schnell wie möglich in das Flughafenhauptgebäude.
Distanz 132
In dem kleinen Frachtflughafen interessierte sich niemand für die Neuankömmlinge, und da die vier ihr Gepäck bereits hatten, verließen sie das nicht mehr als zweckmäßig eingerichtete Flughafengebäude gleich wieder auf der anderen Seite. In Touristengebieten sprangen den Reisenden die Taxifahrer nur so entgegen und schlugen sich fast um die Gunst des potenziellen Kunden. Aber hier machte sich der Fahrer nicht mal die Mühe auszusteigen, um ihnen beim Gepäckeinladen zu helfen. Das Taxi war sehr alt und für Menschen wie Thomas zu klein. Dr. Chakalakel sagte dem Fahrer den Namen des Hotels, in dem sie auch die anderen Antarktisexpeditionsteilnehmer treffen sollten. Der Taxifahrer verharrte kurz in Gedanken, beschleunigte dann gemütlich sein Fahrzeug und fuhr die Straße hinunter am Flughafen und den Hangars vorbei. Der Flughafen befand sich einige Kilometer außerhalb von Punta Arenas, sodass in der näheren Umgebung wenig Häuser standen. Wäre das Wetter nicht so stürmisch und der Himmel mit grauen dicken Wolken verhangen gewesen, hätten sie einen schönen Ausblick auf die Ausläufer der Anden gehabt.
Der Taxifahrer steuerte sie die stark abgenutzte Straße hinunter. Am kompletten Flughafen vorbei. Am Ende der Straße wendete er und fuhr die Straße wieder hoch, bis er genau auf der Höhe des Flughafenterminals war und dort hielt. Dann gab er seinen Fahrgästen mit einem Geräusch zu verstehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. „So eine Abzocke!“ Thomas zahlte und lud die Koffer aus.
Das Hotel sah etwas verwahrlost aus und schief. Auch die vielen Balkone waren in sich schief. Die Geländer waren aus Holz, das mal weiß gestrichen, aber jetzt völlig abgenutzt war, wie auch die Fensterrahmen und die Türen. Der Rest der Fassade war orange, aber auch dieser Anstrich war von etlichen Farbabsplitterungen übersät. Würden nicht überall auf den Balkonen Pflanzen und Blumen wachsen und an einigen Fenstern Gardinen hängen, wäre es sicherlich schon zum Abriss freigegeben worden. Das war nun ihr Hotel für die nächsten drei Übernachtungen! In großen Buchstaben in Neonröhrenleuchtschrift stand der Name an der Fassade: Hotel Paradise. Die in einem Zug geschwungene Röhre leuchtete momentan nicht, aber es war auch noch nicht dunkel. An diesem fernen Ort und auf dieser Seite der Erdkugel wurde es erst sehr spät richtig finster. Doch der eine der vier Leuchtsterne unter dem Schriftzug blinkte unrhythmisch vor sich hin. Ein Wackelkontakt sicherlich ? oder alle anderen Lampen waren schon kaputt.
Annika wollte bei diesem stürmischen Wetter keinen weiteren Gedanken an die Außenfassade verschwenden. So beeilte sie sich, den anderen durch das schiefe Eingangstor zu folgen.
Distanz 131
Von innen schien das Hotel nicht ganz so heruntergekommen sein. Durch sein wild zusammengestelltes Mobiliar wirkte es sogar irgendwie gemütlich. Der Boden war mit verschiedensten Teppichen ausgelegt, deren einzige Gemeinsamkeit darin lag, abgenutzt zu sein. Die halbkreisförmige Kiefernholztheke der Rezeption passte nicht zu den mit Leinen überzogenen Sesseln, die in der anderen Hälfte des Eingangsbereichs eine kreisförmige Sitzecke bildeten. Auf diesen Sesseln machten es sich vier Russen bequem. Das konnte Annika am Ton hören, obwohl sie deren Sprache nicht verstand. Drei Männer und eine Frau. Als Jenay und Annika zur Rezeption schritten, wo Dr. Chakalakel und Thomas sich mit dem Concierge unterhielten, würdigten die vier Russen die Neuankömmlinge nur mit einem kurzen Blick, ohne ihr Gespräch wirklich zu unterbrechen. Annika wollte mit ihrem Vater eigentlich über den Taxifahrer reden, wurde aber dann von dem Anblick dieser vier zwielichtigen Personen abgelenkt. Wieso hatte sie gleich ein Unbehagen im Magen, wenn sie vier Russen sah? Sie schob es auf die vielen Kinofilme mit ihren Klischees über kleine Ansammlungen ausländisch sprechender, düster wirkender Menschen. Annika musste sich eingestehen, dass sie in diesem Punkt sehr viele Vorurteile hatte. Wirklich unheimlich sahen sie bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht aus. Wäre da nicht dieser harte russische Akzent, hätte Annika sie vielleicht in ihren dicken gestrickten Rollkragenpullis für Norweger oder Schweden gehalten. Alle vier waren hochgewachsene Menschen, und die eine blondhaarige Frau mit dem kurzen lockigen Haar überragte sogar zwei der Männer. Sie wirkte für eine große Frau sehr robust gebaut, nicht wie die dünnen Models auf den Laufstegen. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und die Russin lächelte sie an. Verschämt blickte Annika zur Seite, aber aus den Augenwinkeln sah sie, wie die große Frau aufstand, sich von ihren Gesprächspartnern entfernte und direkt auf sie zuschritt. Annikas Unbehagen wuchs mit jedem Schritt, den die Russin auf sie zukam. Sie hoffte, dass diese Frau nur zufällig in ihre Richtung steuerte und vielleicht zur Rezeption wollte. Annika wollte schon Jenay in ein Gespräch verwickeln, aber es war bereits zu spät.
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