„Solange ich als deine Assistentin nicht alles schleppen muss …“, kommentierte Annika die belehrenden Worte ihres Vaters.
„Und habt ihr auch genug warme Sachen dabei?“, wandte sie sich von ihrem Vater an die zwei Inder und wiederholte für Dr. Chakalakel ihren Satz auf Englisch.
„Noch nicht alles“, antwortete Tangatjen.
„In Punta Arenas werden wir die nötige Kleidung für die Antarktis kaufen. Dort ist es billiger, und wir müssen nicht so viel mitschleppen.“
Dr. Chakalakel hatte sie in den letzten Tagen mehrmals darüber informiert, wie ihre Reiseroute sein würde, aber Annika konnte sich nur merken, dass sie irgendwann von Chile aus zur Antarktis reisen würden. Aber wie lange würden sie brauchen? Der Doktor wollte sich da irgendwie nicht richtig festlegen, zu viel würde wohl vom Wetter abhängen. Das Ganze würde aber höchstwahrscheinlich nicht länger als eine Woche dauern. Jenay erklärte ihr gern noch mal den Reiseplan.
„Von München nach Frankfurt dauert es nur fünfzig Minuten, wir können sogar in der Maschine bleiben, aber dann geht es über den Atlantik. Dreizehn bis vierzehn Stunden Flugdauer von Frankfurt nach Buenos Aires. Aber an Bord des Airbus 380 gibt es ein Bordrestaurant. Schon mal mit einem Airbus 380 geflogen?“, fragte Jenay nach.
„Das sind diese zweistöckigen Riesen, oder?“ Jenay nickte auf Annikas Frage zwei Mal.
„Nein, bin ich noch nicht, aber so lange bin ich schon geflogen. Ich mag das gar nicht. Aber vielleicht kann man sich in dem fliegenden Schiff ganz gut die Füße vertreten“, scherzte Annika. Jenay lächelte sie breit an, aber Annika war unsicher, ob er den Scherz verstanden hatte.
„Geht es in Buenos Aires gleich weiter, oder können wir dort eine Pause machen?“
„Ein paar Stunden werden wir dort auf unseren Anschlussflug warten müssen, aber dann geht es weiter nach Santiago de Chile, Flugzeit eine Stunde und fünfunddreißig Minuten, und von Santiago de Chile nach Puerto Montt in knapp zwei Stunden. Dort machen wir dann einen Tag oder mehr Pause.“ Die letzten Worte sprach er ganz schnell aus, als er sah, wie Annikas Augen immer größer wurden.
Distanz 141
In Frankfurt ließ Jenay Annika am Fenster sitzen. Er hatte bereits das Vergnügen, acht Stunden an einem Flugzeugfenster zu sitzen, als sie von Indien nach Deutschland gekommen waren. Er fragte sich, ob es nicht kürzer gewesen wäre, in die andere Richtung um die Erde zu fliegen oder über Australien und Neuseeland gleich zur Antarktis. Dr. Chakalakel hatte die Route geplant, und der musste sich natürlich an die DDCCompany halten, die ihren Startpunkt in Chile hatte. Sie saßen alle vier in einer Reihe sehr weit vorne im Airbus, aber nicht in der ersten Klasse. Diesen Luxus erlaubte ihnen DDC nicht. Dann beschleunigte der Airbus 380 auf der Startbahn und erhob sich zu seiner dreizehnstündigen Flugreise in den Himmel Richtung Buenos Aires.
Das Restaurant war den ganzen Flug immer voll besetzt, und so verbrachten die vier Reisegefährten die meiste Zeit des Fluges in ihren Sitzen, um dort zu essen, zu schlafen oder laut zu lachen. So kam es jedenfalls Thomas vor, denn Annika und Jenay alberten viel neben ihm herum. Einerseits hinderte es ihn daran, den Flug zu verschlafen, andererseits freute er sich darüber, seine Tochter herzhaft lachen zu sehen. In seiner Gegenwart war sie meistens sehr ernst. Wer konnte es einer Tochter verdenken, die ihren Vater aus dem Gefängnis holen musste? Wieder begann Thomas, sich in seinen Gedankengängen zu verteidigen. Er hatte damals in den USA kein wirkliches Verbrechen verübt. Nur Nachforschungen über seine Frau angestellt. Die Ausrede der amerikanischen Regierung, sie sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, war nach nur wenigen Recherchen unglaubhaft geworden. Sie hatten sich geschworen, jeden Tag miteinander zu telefonieren, bevor sie zu Bioniko in den USA ging. Er machte sich wieder Vorwürfe, weil er sie darin bestärkt hatte, diese Gelegenheit zu nutzen. Es sollten nur vier Monate sein. Vier Monate Auslandserfahrung, die ihrer Karriere einen ordentlichen Schub verliehen hätten.
Bei ihrem letzten Telefonat erzählte sie ihm, dass sie an einem besonderen Projekt teilnehmen dürfte, sie aber wegen der Sicherheitsmaßnahmen und des abgelegenen Ortes für zwei Wochen nicht miteinander telefonieren könnten. Sie klang sehr begeistert und aufgeregt, aber sie verriet nicht, worum es sich bei diesem Projekt handelte.
Wieder ließ er es zu. Thomas hatte die letzten Briefe von Verena immer bei sich. Er hatte sie schon so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen brüchig geworden war, aber nie herausgefunden, was wirklich zwischen den Zeilen stand. Es fehlten die kleinen Floskeln, die nur harmonisierende Paare miteinander teilten. Die Briefe waren von ihr, aber jemand hatte das wegradiert, was sie wirklich sagen wollte. Trotzdem hatte er herausgefunden, dass sie mit Kollegen des BionikoInstituts in die Antarktis gebracht worden war. Seine Wahrheitssuche führte ihn zu den Verwandten der anderen, die auch vermisst wurden. Er stieß auf immer mehr Widersprüche, und andere Fakten belegten Tatsachen, die verborgen gehalten wurden.
Irgendwann tauchte dann der Name auf: Major Hidge, militärischer Leiter von Fort Shellbay in den Rocky Mountains. Dass er eine wichtige Rolle in dieser Vertuschungsgeschichte spielte, wurde Thomas erst wirklich bewusst, als man ihn zur Untersuchung in ein Militärgefängnis steckte. Der Name des Majors hatte in gewissen militärischen Kreisen Aufmerksamkeit erweckt ? und das nicht ohne Grund. Einen Monat hatte es gedauert, bis Annika herausgefunden hatte, wo ihr Vater steckte, und weitere zwei Monate, bis sie ihn den Klauen der amerikanischen Bürokratie entrissen hatte. Eine geheime Macht wollte Thomas nicht mehr gehen lassen, und in den drei Monaten Inhaftierung glaubte er schon, dass man ihn verschwinden lassen wollte.
Ohne die Bemühungen seiner Tochter wäre er wahrscheinlich wirklich verschwunden.
Einfach so.
Distanz 139
Dr. Chakalakel hatte es geschafft, kurz nach dem servierten Abendessen einzuschlafen, und mit etwas Glück blieb er möglichst lange in diesem Zustand. Annika und Jenay hatten ihm den Platz am Fenster überlassen, damit ihn keiner aufwecken musste, sollte einer von ihnen mal aufstehen müssen. Thomas saß nun direkt neben Jenay und war bei seinen Gedankengängen eingeschlafen. Im Gegensatz zu Annika schlief Thomas gerade im Sitz, mit dem Kopf nach hinten geklappt, sodass sein Hals trotz des Kissens leicht überstreckt war. Diese Stellung hatte zur Folge, dass sein Mund leicht offen stand und dass er leicht röchelte. Annika hatte sich unter eine dünne Schlafdecke gekuschelt, leicht seitlich gelegt und ihren Kopf an Jenays Schulter geschmiegt. Wären sie alleine gewesen, hätte Jenay ihre Nähe durchaus genießen können. Doch in dieser Situation, mit Annikas Vater auf der anderen Seite, der im Begriff war, ein ausgewachsenes Schnarchen zu erzeugen, fiel es ihm außerordentlich schwer, romantische Gefühle zu entwickeln. So schloss auch Jenay seine Augen und ließ seine Gedanken hinter das transantarktische Gebirge reisen.
Distanz 138
Der Flug neigte sich seinem Ende zu. Nicht alle hatten das Glück, fünf Stunden geschlafen zu haben. Thomas hatte lediglich zwei Stunden in diesem Zustand verbracht. In der Zwischenzeit war er durchs Flugzeug geschlendert und schrieb im Restaurant in seinem Tagebuch die Ereignisse nieder, die seit seinem letzten Eintrag passiert waren. Eigentlich war es mehr ein Wochenbuch als ein Tagebuch. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Sonntagabend seinen Wochenrückblick zu machen. Heute war allerdings erst Donnerstag, aber jetzt hatte er Zeit und konnte sowieso nicht schlafen. Er führte mittlerweile seit achtzehn Jahren Tagebuch. Es hatte damit angefangen, dass Verena in die Vereinigten Staaten gegangen war. Sie kauften sich jeder das gleiche, in rotes Leder gefasste Buch mit leeren Seiten und einem Lederband zum Einwickeln. Wenn sie getrennt voneinander waren, würde jeder von ihnen Tagebuch führen. Bis sie wieder zusammen waren. Es war Verenas Idee gewesen, und Thomas fand es zuerst etwas albern, da sie doch sowieso jeden Tag telefonierten. Aber er tat es ihr zuliebe doch. Er sollte besonders die Entwicklungsschritte von Annika festhalten, denn sie hoffte, vielleicht einen kleinen Teil von dem, was sie in den USA verpassen würde, auf diese Weise nachlesen zu können. Obwohl sie nicht mehr zurückkam, behielt Thomas dieses Ritual bei und kaufte auch immer nur dieses Tagebuch mit dem roten Ledereinband. Mittlerweile hatte er sich einen Vorrat an Tagebüchern zugelegt, von denen er dreißig mit seinen Einträgen gefüllt hatte. Er machte sich keine Hoffnungen, dass er seine Frau jemals lebend wiedersehen würde, aber vielleicht würde er eines Tages ein Tagebuch von ihr finden.
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