Die Türklingel läutete zweimal kurz und einmal lang. Das alte Zeichen, um zu signalisieren, dass es ein Familienangehöriger war. Da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie keine Geschwister hatte, konnte es nur ihr Vater sein. Sie öffnete ihm die Tür, und der große Mann im dunkelbraunen Pelzmantel trat auf sie zu und umarmte sie. Da es draußen schneite und die Straßen ganz matschig waren, zog er gleich seine Stiefel aus und stellte sie vor die Tür. Annika hatte bereits einen Kleiderbügel in der Hand und wollte Thomas den Mantel abnehmen, doch der winkte ab: „Schon okay, ich bleibe nur ganz kurz.“
Er ging geradewegs in ihr Wohnzimmer und blieb vor dem Fenster stehen. Seine angespannte Haltung verriet ihr, dass ihrem Vater etwas auf dem Herzen lag, und sie hoffte, dass es sich nicht wieder um das alte Thema drehte. Zu viel hatte sie deswegen durchgemacht. Thomas drehte sich zu ihr um, blickte ihr aber nicht in die Augen.
„Ich werde eine Zeit lang verreisen.“ Bevor Annika ihm aufgebracht ins Wort fallen konnte, sprach er schnell weiter:
„Nicht in die USA, nicht mal in die Nähe davon. In die Antarktis.“ Annika neigte fragend ihren Kopf und verengte ihre Augen:
„Und das soll mich beruhigen? Du kommst mit dieser typischen Art an, die mir klar sagt, dass es wieder um Mutter geht.“ Ihre Enttäuschung und ihre damit verbundene Sorge konnte Thomas nicht ignorieren.
„Ich weiß, das mit Amerika ist damals dumm gelaufen. Ich habe viel zu unvorsichtig in Wespennestern herumgestochert.“ Zorn funkelte in Annikas Augen auf, und sie antwortete scharf:
„Du hast in Staatsgeheimnissen gestochert, schon vergessen? Den Amerikanern ist es doch egal, wonach ein Fremder sucht. Ein Land, das ständig in Angst vor Terroranschlägen steckt, ist in jeder Hinsicht paranoid. Was hast du erwartet?“ Sie schüttelte ihren Kopf, und ihre langen braunen Haare weckten Erinnerungen an Verena in ihm. Sie war fast in dem Alter wie ihre Mutter, als diese verschwunden war, nur zwei Jahre jünger. Vielleicht konnte er sie aus diesem Grund nicht loslassen. Annika wurde ihrer Mutter einfach immer ähnlicher. Achtzehn Jahre waren vergangen, aber die Sehnsucht nach ihr wollte nicht abklingen. Oder war es Besessenheit? Nachdem Annika ihn aus der Gewalt der amerikanischen Behörden freigeboxt hatte, versuchte er mehrere Jahre, wieder ein normales Leben zu führen. Verenas Platz nahm aber keine andere Frau mehr ein. Er war wohl wie eine dieser Papageienarten, die nur einen Partner haben würden und dann einsam starben. So hatte er sich gefühlt, bis sich der Inder bei ihm gemeldet hatte. Doch nun war seine Besessenheit neu entflammt, und er war fest entschlossen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.
„Die Geschichten, die du ausgegraben hast, sind doch nicht Grund genug, in die Antarktis zu fahren! Du bist doch gar nicht ausgebildet für so eine Reise!“, warf Annika ihm an den Kopf.
„Ich bin diesmal nicht alleine, Dr. Chakalakel kommt mit und noch ein ganzes Team von Spezialisten“, versuchte Thomas, sie zu beruhigen. „Biologen, Geologen, Antarktisspezialisten und jede Menge andere Wissenschaftler.“
„Und wieso darfst du da mit? Soviel ich weiß, sind die Aufnahmebedingungen bei einer Antarktisexpedition ziemlich hart. Dafür bist du doch nicht fit genug.“
„Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, in welcher Kondition ich bin“, widersprach ihr Thomas.
„Ich habe als Dokumentarfilmer angeheuert. Dr. Chakalakel hat sie davon überzeugt, und wenn du willst, kannst du als meine Assistentin mitkommen.“ Auf dieses Angebot war sie nicht gefasst. Sie könnte bei einer Antarktisexpedition dabei sein? Er wusste, dass eins ihrer Hobbys das Reisen in exotische Länder war. Oder an abgelegene Orte, an denen man sich nicht wie ein gewöhnlicher Tourist vorkam. Ihr Zorn wich Neugierde, aber sie war immer noch sehr misstrauisch.
„Wer sind diese Leute? Das ist doch keine offizielle Expedition?“
In das ernste Gesicht des großen Mannes schlich sich ein leichtes Lächeln: „Das musst du Dr. Chakalakel fragen.“
Distanz 147
Nachdem ihr Vater gegangen war, schwirrte sein Angebot noch in ihrem Kopf herum. Es hatte für sie einen gewissen Reiz. Bisher waren die Ziele, zu denen sie gereist war, in tropischen Gefilden angesiedelt. In kalte Regionen hatte sie es außer im Skiurlaub nie gezogen. Doch die Antarktis war Abenteuer pur. Es würde auch kein Spaßurlaub werden, sondern ein Job.
Andererseits wollte sie sich nicht kopflos in solch eine Reise stürzen. Sie musste sich erst mal genauer darüber informieren, um was für eine Expedition es sich handelte und wer das Kommando hatte. Sie war vorsichtig, denn ihr Vater hatte sich nur aus einem Grund darauf eingelassen, also hatte diese Expedition auch etwas damit zu tun.
In einer Woche wollten sie aufbrechen, hatte ihr Vater gesagt. Folglich hatte sie ein paar Tage Zeit, im Internet zu recherchieren ? und morgen würde sie den Inder ausfragen.
Distanz 146
Den halben Nachmittag hatte Annika damit verbracht, Schlaf nachzuholen. Sie hatte noch bis fünf Uhr früh gearbeitet und dann die finalen Daten per FTPZugang auf den Kundenserver hochgeladen. Das war jetzt die zweite kostenlose Änderung, und ab der dritten würde es teuer werden. Eine alte Regel, die mittlerweile auch der Kunde kannte. Daher rechnete sie nicht damit, dass noch weitere Änderungen kommen würden. Es war schon halb sechs, als sie mit ihrem Ford Ka in den Garagenhof eines Wohnblocks hineinfuhr. Im dritten Stock bewohnte ihr Vater eine Mietwohnung, in der sie aufgewachsen war. Es war sozusagen ihr Elternhaus. Ab dem neunten Lebensjahr lebte sie mit ihrem Vater alleine dort. Manch einer hätte nach dem Verlust seines Lebenspartners die Wohnung gewechselt, aber ihr Vater nicht. Er klammerte sich an alle Dinge, die ihn an Verena, ihre Mutter, erinnerten. Das fünfstöckige Gebäude war ein Altbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ihre Mutter wollte wenigstens den Charme eines Altbaus haben, wenn sie sich schon kein Eigenheim leisten konnten. Dafür gab es keinen Aufzug, nur ein breites Treppenhaus, welches Annika, ohne in Atemnot zu gelangen, hochstieg. Das Quietschen und Ächzen der alten Holzstufen ließ Erinnerungen an ihre Kindheit wach werden. Ihre Kindheit war sehr kurz gewesen. Mit fünfzehn Jahren schmiss sie fast alleine den Haushalt, während ihr Vater arbeiten musste. Vielleicht war sie deshalb so schnell mit ihrem Studium fertig gewesen. Jetzt, mit sechsundzwanzig, hatte sie auch schon so einiges erlebt, war viel gereist und hatte sogar an einem Spielfilm mitgewirkt.
Mit dem Zeigefinger drückte sie rhythmisch das Familienklingel¬zeichen an der Wohnungstürglocke. Sie hatte zwar noch einen Wohnungsschlüssel, aber sie wollte nicht einfach hineinplatzen und vielleicht einem halbnackten Dr. Chakalakel überraschen. Diesen Mann, den Thomas in Indien entdeckt hatte, kannte Annika nicht, und sie hatte auch nie ein Foto gesehen. Sie war gespannt auf ihn.
Ihr Vater öffnete die Tür und wirkte weniger ernst als gestern. Er sah irgendwie zufrieden aus. Er bat sie herein und machte eine einladende Geste ins Esszimmer, an dessen Esstisch ein Inder saß. Sollte das Dr. Chakalakel sein? Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass er dreiundfünfzig wäre? Doch jetzt, im Jahr 2012, musste er mittlerweile neunundfünfzig Jahre alt sein. Sie erinnerte sich noch genau, als ihr Vater Tangatjen Chakalakel vor sechs Jahren kennengelernt hatte. Da war er bereits dreiundfünfzig Jahre alt. Doch der attraktive Inder, der sie mit seiner großen Nase und den tiefliegenden Augen an den Bollywoodstar Shah Rukh Khan erinnerte, konnte unmöglich neunundfünfzig Jahre alt sein. Höchstens dreißig, oder hielten sich Inder so gut? Er stand auf, reichte ihr die Hand und nannte dabei in gebrochenem Deutsch seinen Namen:
„Hallo, Sie sind sicher Thomas Tochter? Mein Name ist Jenay Chochin, ich bin der wissenschaftliche Assistent von Dr. Chakalakel.“
Читать дальше