Auch seine Mimik ähnelte dem des Bollywoodstars. Sie erwartete nur noch, dass sich seine Augen mit Tränen füllen und er anfangen würde zu tanzen.
„Stimmt etwas nicht, Miss Annika?“ Seine Frage war wohl auf ihren erstaunten Blick zurückzuführen. Blut schoss ihr in die Wangen. Hatte sie ihn so lange erstaunt angesehen?
„Ach, wollen wir uns nicht einfach duzen?“
„Duzen?“, fragte Jenay, während er seine rechte Augenbraue hochzog.
„Du zueinander sagen, statt Miss Annika. Annika reicht, und ich nenne dich Jenay. Okay?“ Hoffentlich hatte er nicht das Gefühl, wie ein Behinderter behandelt worden zu sein, schoss es ihr danach noch durch den Kopf.
„Okay, Annika“, sagte er und legte ein charmantes Lächeln à la Shah Rukh Khan auf. Aus dem Wohnzimmer, welches an das Esszimmer grenzte, kam nun ein älterer Inder. Diesmal war es Dr. Chakalakel, und er sah auch so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.
Distanz 145
Thomas hatte eine Menge Wurst, Käse und Schinken aufgetischt, und an Tomaten, eingelegten Oliven und sonstigen Leckereien fehlte es nicht. Sie saßen zu viert um den Esstisch herum, und Dr. Chakalakel erzählte auf Englisch, wie er Thomas in Indien kennengelernt hatte. Es war im Jahr 2006 gewesen, als er mit dem fremden deutschen Mann in Varakulam zusammenstieß. Im wahrsten Sinne des Wortes war Thomas mit seinem Leihwagen in das kleine dreirädrige Ottokar von Dr. Chakalakel gefahren. Aber diese Geschichte kannte Annika bereits von ihrem Vater. Sie versuchte, das Gesprächsthema auf die bevorstehende Reise zu lenken, was auch kein Problem war. Der kleine alte Inder war Feuer und Flamme. Thomas genoss es, dass einmal ein Verbündeter seine Tochter mit diesem Thema konfrontierte. Da sie gut Englisch verstand und der indische Dialekt nicht völlig unverständlich war, konnte sie ihm gut folgen.
Der Doktor holte weit in die Vergangenheit aus:
Distanz 144
Es war im antarktischen Sommer 1988, als er das erste Mal in Wilkesland war. Als Geologiestudent kam er über viele Umwege und Beziehungen zu einer norwegischen Antarktisexpedition. Das Ziel dieser Forschungsreise sollte es sein, Eisproben aus sehr tiefen Eisschichten der Antarktisgletscher zu bergen. „Eiskernbohrungen“ nannten die Forscher diese Tätigkeit. Tangatjen Chakalakel war schon immer fasziniert von diesem eingefrorenen Kontinent, der in einem extremen Kontrast zu Indien stand. Eine kilometerdicke Eisdecke hatte sich seit dreizehn Millionen Jahren über ein Land gelegt, das zuvor in manchen Teilen dem Klima Indiens sogar ähnlich gewesen war. Am Rande des transantarktischen Gebirges hatten sie eine Containerstation errichtet. Drei Monate hatte er dort mit den Norwegern verbracht, die ihm den einfallsreichen Spitznamen „Ghandi“ verpasst hatten. Sie waren in der Einsamkeit schnell zu Freunden geworden. Mit Hektor Amundsen verstand er sich besonders gut. In der letzten Woche seines Aufenthalts stießen sie beim Bohren in etwa eintausendsechshundert Metern Tiefe auf etwas, das ihren Bohrkopf völlig zerstörte. Als sie ihn näher untersuchten, stellten sie fest, dass er sich nicht nur deformiert hatte, sondern mit einer unbekannten metallischen Legierung verschmolzen war. Mithilfe der Atomspektroskopie versuchten sie, die genaue elementare Zusammensetzung des fremden Materials zu bestimmen. Dies scheiterte daran, dass sich die Legierung nicht in einen gasförmigen Zustand überführen ließ. Für dieses Verfahren war das nötig, aber das unbekannte Material ließ sich einfach nicht verdampfen. Für die meisten stand fest, dass es nicht von der Erde stammen konnte. Wilde Spekulationen machten die Runde, ScienceFictionKlassiker wurden zitiert. Es war, als hätten sie den „Goldenen Gral“ der Antarktis gefunden.
Aber so aufregend wurde es dann doch nicht. Zumindest nicht für Tangatjen Chakalakel, der wieder zurück nach Indien musste. Hector versprach ihm aber, ihn wegen des Fundes auf dem Laufenden zu halten. Tangatjen hörte jedoch nie wieder etwas von ihm. Natürlich versuchte er, Näheres über seinen norwegischen Freund herauszufinden. Er stolperte, ähnlich wie Thomas seinerzeit in den USA, über Geheimniskrämerei und Lügen, bis er mit Sicherheit sagen konnte, dass alle norwegischen Kollegen tot waren. All dies hatte er über Recherchen von Indien aus herausgefunden. Durch seine Fragen über den außergewöhnlichen Fund unter dem Eis wurden Personen auf ihn aufmerksam, die auch ihm nach dem Leben trachteten. Wäre da nicht eine Organisation aus dem Schatten getreten, die sich „Blizzard“ nannte, wäre er wahrscheinlich schon lange tot. Hinter Blizzard steckte ein deutscher Konzern. Diese Information konnte er mit der Zeit herausfinden. Wer und wieso sie ihn rechtzeitig gewarnt hatten, erfuhr er erst vor vierzehn Tagen. Kurze Zeit danach rief er Thomas an.
Distanz 143
Dr. Tangatjen Chakalakel machte eine Pause und schaute erwartungsvoll in die Runde. Annika sah ihren Vater mit leicht offen stehendem Mund an. Thomas nickte bestätigend.
„Wie ich es dir damals erzählt habe.“
„Was hat Ihre Frau beruflich gemacht?“, fragte ihn Dr. Chakalakel. „Sie war Genetikerin, kurz vor ihrem Diplom“, antwortete Thomas mit starrem Blick, der verriet, dass er gedanklich schon woanders war.
„Dann müssen sie etwas Biologisches entdeckt haben. Wieso sollten sie damals sonst eine Genetikerin mitgenommen haben?“, warf Jenay ein.
Das ging Annika zu weit.
„Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass dort ein Ufo gefunden wurde? Sozusagen ein Roswell der Antarktis?“ Annika hatte Probleme, an solche Dinge zu glauben, da für sie Außerirdische nur in Büchern und Filmen vorkamen. Das war irgendwie falsch.
„Was ist Roswell?“, fragte Dr. Chakalakel.
„Das soll eine UfoAbsturzstelle gewesen sein. Area 51 ist doch sehr bekannt …“, versuchte Jenay dem Doktor zu erklären, doch der schüttelte nur den Kopf. Annika fühlte eine innere Unruhe aufkommen, angeblich hatte sie diese Ungeduld von ihrer Mutter geerbt.
„Jetzt erzählen Sie doch mal von der Antarktisexpedition! Der bevorstehenden!“, fügte Annika noch schnell hinzu, damit der Doktor nicht wieder in die Vergangenheit abrutschte.
Tangatjen Chakalakel faltete seine Hände wie zum Gebet und lehnte sich seinen Zuhörern entgegen:
„Wie ich erwähnte, hat sich die Organisation Blizzard nach Jahren wieder bei mir gemeldet. Sie sind es, die alles finanzieren und organisieren. Seit Jahren beobachten sie einen speziellen Fleck in der Antarktis. Es ist der Ort, an dem ich damals meine Eiskernbohrungen gemacht habe. Seitdem die Amerikaner die Norweger vertrieben haben, besetzen sie diesen speziellen Ort mit einer amerikanischen Forschungsstation. Nur damit kein anderer auf die Idee kommen könnte, dort Bohrungen vorzunehmen. Nach Regierungswechseln und großen Haushaltslöchern in den USA musste der Betrieb dieser Station dann letztendlich eingestellt werden.“
„Antarktisstationen können sehr viel Geld verschlingen. Besonders wenn sie über so lange Zeit ständig erneuert werden müssen“, fügte Thomas ein. Dr. Chakalakel fuhr fort:
„Als die Amerikaner endlich abgezogen sind, startete die BlizzardExpedition zu diesem fernen Ort, um heimlich Bohrungen durchzuführen.“ Dr. Chakalakel machte eine Pause, die Annika nutzte, um ihm gezielt Fragen zu stellen.
„Wer steht überhaupt hinter Blizzard? Kennen Sie Namen? Und wieso sind die sich so sicher, dass dort noch etwas zu entdecken ist?“ Thomas schaute seine Tochter so verwundert an, als hätte er sich diese Frage nie gestellt.
„Vielleicht haben die Amerikaner schon alles ausgegraben und sind deshalb weg“, führte sie ihre Bedenken genauer aus.
Dr. Chakalakel schmunzelte.
„Es ist noch da. Das bestätigte mir Herr Müller. Das ist der Mann, der mich übrigens anrief und zur Expedition einlud. Er sagte mir, sie haben bereits mehrere Testbohrungen in Umkreis von fünfhundert Metern gemacht und sind immer auf das gleiche Ergebnis wie ich vor vierundzwanzig Jahren gekommen: mit einer unbekannten Legierung verschmolzene Bohrköpfe. Das bedeutet, dass es mindestens einen Durchmesser von einem Kilometer hat. So etwas können auch die Amerikaner nicht abtransportieren. Besonders, wenn es unter einer Meile Eis liegt.“ Er spülte seine Worte mit einem großen Schluck Wasser hinunter.
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