„Aber wieso fahren sie wieder dorthin? Um noch mehr Bohrungen zu machen? Was erwarten die sich davon? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber als Wissenschaftslaie wundere ich mich einfach, dass diese Organisation noch mal dorthin fährt, um weitere Eiskernbohrungen zu machen. Ergibt das Sinn?“ Bei ihren letzten Worten wandte sie den Blick zu ihrem Vater.
„Sie werden dort bohren, um runterzugehen“, antwortete Thomas trocken.
Annika fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Die Expedition, die in ihrem Kopf eine kleine Antarktisreise von Verschwörungs¬anhängern war, wuchs schlagartig zu einem Großprojekt an. Was war nötig, um in eine Tiefe von eintausendsechshundert Meter unter das Eis zu gelangen? Auf jeden Fall größere Maschinen. Diese mussten auf einen Gletscher in dreitausend Metern Höhe gebracht werden. Noch einmal fragte sie Dr. Chakalakel, wer genau hinter Blizzard steckte.
„Also, ich weiß nur so viel: Ein deutsches Bergbauunternehmen wurde seinerzeit vom amerikanischen Militär beauftragt, eine Tunnelbohrmaschine zu entwickeln, mit der man sehr tief in antarktische Gletscher bohren kann“, antwortete Dr. Chakalakel. „Seeger Bergbau war die Firma, die das richtige Knowhow hatte. Sie haben sich schon 1988 mit Bohrungen auf dem Mars befasst. Jedenfalls hatten sie damals sehr fortschrittliche Technologien entwickelt, sind aber nach dem Auftrag für die Amerikaner schnell bankrottgegangen. Damals gab es diesen Bergbauskandal, für den Seeger Bergbau verantwortlich gemacht wurde, und das gab ihnen den Rest.“
„Was ist denn da passiert?“, fragte Annika. Dr. Chakalakel musste überlegen, aber Thomas übernahm die Erklärung:
„Ende 1994 gab es im Ruhrgebiet ein Bergbauunglück in einem Tunnel, in dem die neuesten Maschinen von Seeger Bergbau eingesetzt wurden. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, fehlerhafte Maschinen eingesetzt zu haben. Ein paar Menschen sind gestorben, und dann war der Ruf des Unternehmens zerstört. Nach meiner Internetrecherche hatten viele amerikanische Investoren ihre Finger im Spiel, bis hin zu einer Person Namens Major Hidge vom amerikanischen Militär.“ Thomas hatte wieder diesen verschwörerischen Blick, mit dem er leidenschaftlich über die wildesten Theorien sprach.
„Der Firmenchef Dr. Seeger und seine Familie kamen kurze Zeit später bei einem Autounfall ums Leben. Als ich das alles entdeckte, wurde mir klar, dass hier mutmaßlich Menschen aus dem Weg geräumt wurden, um etwas sehr Wichtiges geheim zu halten!“
Annika bereute ihre Frage mittlerweile, denn sie konnte diese Verschwörungsgeschichten nicht mehr hören. Nach Thomas’ Wahrheitssuchaktion in Amerika hatte er die dort gesammelten Informationen zu einer riesigen Verschwörungskonstruktion zusammengesetzt. Über mehrere Jahre hatte er nicht aufgehört, davon zu sprechen. Bis sie ihm eines Tages deutlich die Meinung gesagt hatte. Dann war lange Zeit Ruhe gewesen ? bis jetzt. Und dementsprechend stellte sie ihre Frage recht schroff: „Was hat das denn jetzt alles wieder mit dieser Expedition zu tun? Ich will doch nur einfach wissen, wer das Ganze macht.“ Thomas war es sichtlich unangenehm, dass seine Tochter vor seinen Gästen so aus dem Häuschen geriet. Annika empfand ihre Reaktion im Nachhinein auch etwas als übertrieben, aber Dr. Chakalakel antwortete, als wäre es eine ganz normale Frage gewesen. „Die Firma DDC, Deep Digging Constructions, übernahm die Restbestände des zerstörten SeegerKonzerns. Deren Geschäftsführer ist Alexander Müller der Mann, der mich anrief. Am zehnten Januar starten sie von Punta Arenas in Chile. Das liegt am südlichsten Ende von Südamerika. Anfang des Jahres ist in der Antarktis Sommer, und es ist durchgehend hell, also perfekt für einen Ausflug jenseits des transantarktischen Gebirges im Wilkesland. Und wir dürfen mit.“
Annika war sprachlos, dass es der Inder endlich auf den Punkt gebracht hatte. „Und diesen Leuten können wir vertrauen?“, hakte sie noch nach.
„Das sind nicht irgendwelche Fanatiker, da kommen auch noch seriöse Wissenschaftler mit. Natürlich ist es keine offizielle Expedition. Wir wollen auch nicht die Aufmerksamkeit der Amerikaner erregen“, antwortete Thomas, als gehöre er schon zu Blizzard. Jenay beugte sich etwas näher zu Annika hin und blickte sie ebenfalls verschwörerisch an:
„Da kommen nur Profis mit. Sonst wäre ich auch nicht mitgekommen.“
Jetzt verstand sie, dass alle drei Anhänger der Verschwörungstheorie waren. Und dann waren da noch diese angeblich seriösen Wissenschaftler, die mithilfe einer geheimen Organisation fanatischen Zielen nachjagten. Und das alles finanziert von einem Bergbauunternehmen? Konnte es sich ein Unternehmen leisten, fanatisch zu sein? Wohl kaum. Sicherlich standen finanzielle Gründe dahinter. Der Dokumentarfilm konnte ein Grund sein und der Fund eines außerirdischen Artefakts ein weiterer.. Aber wie weit würden sie sich dabei in legalen Grenzen bewegen? Annika musste mit Grauen an die Zeit zurückdenken, als ihr Vater in der Gewalt der amerikanischen Behörden war. Unter keinen Umständen wollte sie Gesetze brechen.
Und sie wollte auch nicht, dass ihr Vater es tat.
Distanz 142
Es war eine typische Warteschlange für Fluggäste, die ihr Gepäck am Münchner Flughafen abgaben. Genau in der Mitte davon befanden sich Thomas, Jenay und Dr. Chakalakel. Thomas schaute wieder auf die Uhr. Obwohl der Flieger erst in einer Stunde starten würde, wollte er mit allen zusammen einchecken, damit sie auch Sitzplätze nebeneinander bekamen.
Hatte es sich Annika doch noch anders überlegt? Im Laufe der vergangenen Woche hatte sie sehr unentschlossen gewirkt. Vielleicht war es von Thomas keine gute Idee gewesen, sie auf diese Expedition mitnehmen zu wollen. Aber sie hatten schon seit geraumer Zeit nichts mehr miteinander unternommen, und er befürchtete, sie könnten sich entfremden. Er könnte es nicht ertragen, noch ein Familienmitglied zu verlieren.
Thomas bemerkte in Jenays Gesicht ein breites Lächeln, und seinem Blick folgend sah er am anderen Ende des Terminals Annika auf sie zu marschieren. Annika winkte den drei Expeditionsteilnehmern zu und machte keine Anstalten, mit ihrem Trolly im Schlepptau am Ende der Schlange stehen zu bleiben. Sie hob unbekümmert das schwarzweiße Abgrenzungsband hoch und schlüpfte geschmeidig in die ZickzackSchlange zu den anderen. Dass sie ein paar Passagiere verstimmt ansahen, kümmerte sie überhaupt nicht.
Jenay war sehr angetan von ihrem Auftreten. Sie bewegte sich sehr selbstbewusst in ihrem lässigen Outfit auf sie zu. Sie trug schwarze halblange Lederstiefel, Blue Jeans, eine schwarze gefütterte Lederjacke und eine Kappe mit Fellbezug. Jenay war froh, dass er seine Kordhose gegen ein paar Jeans eingetauscht hatte. Im Heimatdorf seiner Eltern hatte er die meiste Zeit des Jahres ein buntes Hemd und ein Stofftuch um die Hüften getragen. Aber hier versuchte er, sich dem Trend der Europäer besser anzupassen.
„Schön, dass du doch noch gekommen bist! Ich hoffe für dich, dass du ein paar wärmere Sachen dabei hast“, sagte Thomas etwas spitz.
„Na klar, bin bestens gerüstet. Du aber auch, wie ich sehe.“ Dabei deutete sie auf den Gepäckwagen hinter Thomas, auf dem sich neben den Koffern von Jenay und Dr. Chakalakel auch noch zwei Metallkoffer, drei schwarze große Kamerataschen und ein normaler SamsoniteKoffer stapelten. Die Kamerataschen konnte sie noch verstehen, schließlich hatte ihr Vater die Aufgabe, eine Dokumentation zu drehen. Aber was war in den Metallkoffern?
„Zwei HDCamcorder, zwei Digitalspiegelreflexkameras, zwei Laptops, jede Menge Akkus, Kabel, Objektive und ein nicht ganz leichter Solarstromgenerator. In der Antarktis gibt es nämlich keine Steckdosen. Außerdem müssen wir alles doppelt haben. Sollte ein Gerät versagen, ist die Dokumentation gestorben“, antwortete Thomas.
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