Steffiney schwirrte nur so der Kopf von den ganzen fremden Namen und Orten. Sie würde sich in der Bibliothek eine Karte von Amerika ausleihen müssen, um sich etwas mit ihrer Reiseroute vertraut zu machen.
Nachdem der eifrige Heiratsvermittler seine Gebühr kassiert hatte, schien er Miss O`Brian mit einem Mal sehr schnell loswerden zu wollen. Bevor die junge Frau so recht wusste, wie ihr geschah, stand sie schon wieder auf der überfüllten Straße, die zum Hafen hinunterführte, und sah sich nach einer Droschke um. Ihr Geld, das sie dabei hatte, würde gerade noch reichen, um bis zu Mrs. Rulys kleiner Pension zu kommen.
Als sie nach diesem langen Tag endlich wieder in ihrem kleinen Dachzimmer stand und die Nadeln löste, die ihr Schwesternhäubchen an Ort und Stelle hielten, war sie doch etwas ärgerlich. Sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, Mr. Smith noch irgendwelche Fragen zu stellen. Und sie musste zugeben, dass sie jetzt, wo sie so ganz allein in der abgeschiedenen Stille ihres kleinen Zimmers war, etwas Angst vor ihrem eigenen Mut bekam.
Sie würde den langen Weg in den Westen ganz allein hinter sich bringen müssen. Sie hatte niemanden, der ihr helfen konnte und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob sie jemals dort ankommen würde, in Green Hollow. Alles war so schnell gegangen, dass sie gar nicht wirklich darüber nachgedacht hatte.
Mr. Smith hatte sie noch gefragt, wann sie gedachte aufzubrechen und für eine schnelle Abreise plädiert. Er selbst würde Mr. Sullivan ein Schreiben zukommen lassen, das ihre Ankunft ankündigte. Sie müsste sich nur noch um die Fahrkarten für die Eisenbahn kümmern und ihre Habseligkeiten zusammenpacken.
Mit einem entmutigten Blick ließ Steffiney sich auf ihr Bett sinken und sah sich in ihrem Zimmer um. Es war nichts Besonderes und bis auf ein paar Kleinigkeiten gehörte ihr nicht mal etwas von der Einrichtung, aber hier war sie zu Hause. Es war so schwierig gewesen, als alleinstehende Frau eine passende Unterkunft zu finden. Wenn überhaupt, dann gab es meist nur Zimmer für Junggesellen, die sich nicht dafür rechtfertigen mussten, noch unverheiratet zu sein. Eine Frau ohne Mann oder anderweitigen Schutz eines weiteren Familienangehörigen fiel dagegen sehr aus dem Rahmen. Weder die Gesellschaft noch der Wohnungsmarkt in Boston war auf so eine Abnormität besonders gut eingestellt.
Seufzend warf Miss O'Brian ihre abgewetzten Handschuhe von sich und öffnete das kleine Retikül, um ein dünnes Bündel Bargeld herauszuziehen. Sie hatte gleich auf dem Rückweg an der Bank haltgemacht, die ihre wenigen Ersparnisse verwaltete und ihr kleines Konto aufgelöst. Das meiste Geld war in die Fahrkarten geflossen, die sie in den Westen bringen sollten. Was jetzt noch übrig war, reichte gerade für die Verpflegung, die sie auf dem Weg benötigen würde und um ihre Miete für die kommenden Tage zu begleichen.
Nächste Woche um diese Zeit würde sie bereits in einem Zug Richtung Westen sitzen und ihrem neuen Leben entgegen fahren.
Steffiney konnte nichts dafür, aber für einen kurzen kindischen Augenblick traten ihr die Tränen in die Augen. Sie schaute zu dem Bild, das die Hochzeit ihrer Eltern zeigte, zu dem Spitzendeckchen auf dem Nachttisch neben ihrem schmalen Bett, zu den wenigen Büchern im Regal und den Schreibutensilien auf dem Schreibtisch unter dem Fenster.
Nein, nein! Das war doch zu albern. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Alles, was für eine Frau in der Gesellschaft zählte, war eine Ehe. Eine Ehe und Kinder in die Welt zu setzen. Frauen konnten nicht einfach allein bleiben und ein Geschäft eröffnen oder studieren. Oder, wenn sie es doch taten, dann wurden sie von ihren Mitbürgern meist schief angesehen und im schlimmsten Fall gemieden. Frauen mussten heiraten, wenn sie sich ihren Platz in der Gesellschaft sichern wollten. Und jetzt endlich würde sie auch zu ihrem Recht kommen. Da würde sie doch nicht weinen! Und ihre Erinnerungsstücke an bessere Zeiten konnte sie auch mitnehmen. Sie war schließlich nicht die erste Braut, die in den Westen fuhr, um dort zu heiraten. Wenn andere das konnten, würde sie das auch schaffen.
Und mit diesem Gedanken ging Steffiney O'Brian zu Bett, fest entschlossen nur noch die positiven Seiten ihres Umzugs nach Green Hollow, Colorado zu sehen.
Ich dachte, dass ich hier abgeholt werden würde.
Steffiney war ziemlich überrascht und auch ein wenig traurig gewesen, als sie feststellen musste, dass ihr ganzes Leben in eine Reisetruhe passte. Eine große Reisetruhe immerhin, aber es blieb eine einzige Reisetruhe, in der sich alles befand, was sie hatte.
Als ihr Vater gestorben war und ihre Mutter die kleine Farm hatte aufgeben müssen, da war schon ein großer Teil ihres Lebens verschwunden. Nachdem ihre Mutter sieben Jahre später auch starb, hatte sie die restlichen Möbel und Habseligkeiten verkauft, um sich für die erste Zeit über Wasser halten zu können. Jetzt, wiederum zehn Jahre später, fuhr sie praktisch mit nichts außer ein paar Erinnerungsstücken in ein neues Leben.
Ein scharfer Ruck ging durch die Postkutsche und riss Miss O'Brian unsanft aus ihren melancholischen Betrachtungen. Sie flog mit einem undamenhaften Quietschen von ihrem Sitz und landete in Mr. Winterbottoms Armen, der ihr gegenübersaß. Der korpulente, ältliche Herr, dessen rote Nase von seiner Vorliebe für alkoholische Getränke zeugte, fing sie mit einem breiten Lächeln auf. Seine Hände nahmen sich kurz die Freiheit, einen kleinen Streifzug über den zierlichen Körper seiner Mitreisenden zu unternehmen. Gleich darauf war er wieder ganz Gentleman und half ihr, sich auf ihren Platz zu setzen.
Steffiney, immer noch verwirrt und peinlich berührt, fragte sich gerade, ob Mr. Winterbottom es wirklich gewagt hatte, kurz ihren… über ihren… Grundgütiger, sie getraute sich ja kaum, dieses Wort zu denken! Hatte er ihr eben wirklich den…. Po getätschelt oder war das bloß Einbildung gewesen? Ein Gentleman würde so was doch nie tun! Ein Bostoner Gentleman zumindest nicht!
Allerdings war sie hier auch nicht mehr im gepflegten Boston, sondern bereits auf dem Boden des Colorado-Territoriums. Heute noch würde sie Green Hollow erreichen.
Gleich darauf fuhr die Postkutsche wieder an. Durch die Seitenfenster konnte Miss O'Brian sehen, dass eine passierende Rinderherde für den scharfen Halt verantwortlich gewesen war. Das war wohl der berühmte Wilde Westen.
Mit einem halb verlegenen, halb ärgerlichen Blick bedankte Steffiney sich bei ihrem Helfer und lehnte sich wieder zurück. Sie war vielleicht keine außergewöhnliche Schönheit, aber ihre funkelnden grünen Augen und die kastanienbraunen Locken hatten ihr auf ihrer Reise nach Green Hollow schon das ein oder andere Kompliment eingebracht. Sie hoffte inständig, dass Mr. Sullivan mit ihrem Aussehen ebenso zufrieden sein würde, wie der ein oder andere Herr auf dem Weg hierher.
Während draußen, verwischt durch den Staub der Straße, die bergige Landschaft Colorados vorbeiflog, richteten Steffineys Gedanken sich jetzt von zudringlichen Mitreisenden und Reisetruhen auf erfreulichere Dinge.
Charles Augustus Sullivan, Besitzer der Black Creek Ranch in Green Hollow, Colorado und Witwer, mit vier Söhnen. Ja, das hörte sich gut an.
Anderen Frauen hätte der Gedanke an eine derart arrangierte, nüchterne Ehe vielleicht einen empörten Ausruf entlockt. Steffiney O'Brian dagegen hatte schon vor einiger Zeit aufgehört, romantisch zu sein und auf eine Liebesheirat zu hoffen. Zumindest glaubte sie nicht, dass ihr das jetzt noch widerfahren würde. Nein, sie hatte beschlossen, dass es aus rein wirtschaftlichen Gründen für sie von Vorteil sein würde zu heiraten. Außerdem war sie sich sicher, dass eine Beziehung, die nicht auf Gefühlen, sondern lediglich auf gegenseitigem Respekt gründete, nicht fehlgehen konnte.
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