Mr. Smith war ein vielbeschäftigter Mann und er rief die einzelnen Damen auf, wenn er soweit war. Diesmal war sie allerdings, im Gegensatz zu ihrem letzten Besuch hier, allein in dem kleinen Warteraum.
Sie war überrascht gewesen, dass Mr. Smith sich innerhalb einer Woche schon wieder bei ihr gemeldet hatte und sie noch einmal in sein Büro bat. Er hätte bereits einen passenden Kandidaten gefunden. Wenn sie interessiert wäre, dann sollte sie ihn so schnell wie möglich aufsuchen, hatte in dem kurzen Telegramm gestanden. Gestern Abend war es im Haus von Mrs. Ruly abgegeben worden, wo sie ein kleines Zimmer unter dem Dach bewohnte und verköstigt wurde.
Und gleich heute, nachdem sie ihre Schicht im Bostoner Stadtkrankenhaus beendet hatte, war sie hierher geeilt. Es war nicht so, dass sie die Arbeit als Krankenschwester nicht mochte, aber mit 27 Jahren noch unverheiratet zu sein, war im Lebenslauf einer Frau nun mal ein Makel. Und Steffiney O'Brian war fest entschlossen, diesen Makel zu tilgen. Dabei hatte ihr das Schicksal geradezu in die Hände gespielt. In Form einer halb zerrissenen Anzeige, die sie auf dem Flur ihres Krankenhauses gefunden hatte.
Einfach nur dazusitzen und ihr Schicksal zu beklagen, das lag ihr nicht. Sie würde diese Sache selbst in die Hand nehmen!
Doch bevor sie dazu kam, diese Gedanken weiter zu verfolgen, öffnete sich die Tür von Mr. Smiths Büro. Der kleine, dürre Mann mit den schütteren, graubraunen Haaren steckte seinen Kopf zur Tür hinaus. Er schien überaus erfreut zu sein, sie zu sehen.
„Ah, Miss O'Brian, nicht wahr? Sie müssen entschuldigen, dass ich mir nicht alle Gesichter merken kann. Ich sehe jeden Tag so viele hübsche, junge Damen, bei denen es mir ein Rätsel ist, warum sie unverheiratet sind“, lispelte der Heiratsvermittler, während er der jungen Frau entgegeneilte und ihr herzlich die Hand schüttelte.
Mit etwas Mühe verbiss sich Miss O'Brian eine passende Antwort und lächelte mühsam. Sie wunderte es gar nicht, dass es so viele unverheiratete Damen gab. Aber einem Mann zu erklären, dass man als alleinstehende Frau etwas eingeschränkt war, erschien ihr irgendwie sinnlos. Von den frühen Morgenstunden an musste sie arbeiten, um ihr kleines Zimmer in Mrs. Rulys Pension für alleinstehende Damen bezahlen zu können. Ihr blieb also gar nicht die Zeit, sich hübsch zu machen und den lieben langen Tag in Kaffeesalons zu sitzen, um sich von interessierten Herren ansprechen zu lassen. Mal ganz abgesehen davon, dass man als Frau schnell ins Gerede kam, wenn man sich zu viel allein oder in männlicher Gesellschaft bewegte. Und das war dann der sichere Todesstoß für den guten Ruf. Der ja wiederum unerlässlich war, um einen Mann von tadellosem Charakter für sich einzunehmen. Mal ganz abgesehen davon, dass ihr schmales Gehalt als Krankenschwester keine großen Sprünge oder außergewöhnlichen Ausgaben zuließ.
„Kommen Sie nur herein, ich habe wirklich außergewöhnlich gute Nachrichten für Sie.“ Mit diesen wohlmeinenden Worten riss er Steffiney aus ihren Gedanken, um sie in sein kleines, kahles Büro zu führen. Das dunkle Zimmer, in dem sich nicht mehr als ein Schreibtisch, zwei Stühle und ein Schränkchen für seine Unterlagen befanden, war zwar nicht sehr gemütlich oder anheimelnd, aber deswegen war sie ja auch nicht hier.
„Nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz“, sagte der Heiratsvermittler zu seinem Gast und Miss O'Brian kam der Aufforderung nach. Der alte Holzstuhl gab ein bedenkliches Quietschen von sich, als die kleine, zierliche Frau sich darauf niederließ. Unwillkürlich schoss Steffiney der Gedanke durch den Kopf, was wohl passiert wäre, wenn jemand mit den Ausmaßen von Mrs. Ruly auf dem fragilen Sitzmöbel Platz genommen hätte.
„Nun, Mr. Smith?“, fragte sie gleich darauf gespannt. Die Neugier auf ihren zukünftigen Mann war doch größer als ihre hypothetischen Betrachtungen in Bezug auf ihre Wirtin.
„Ja, Miss O'Brian, wie ich schrieb. Ich habe gute Neuigkeiten. Gerade gestern Morgen ist mir die Anzeige eines Witwers aus dem Colorado-Territorium auf den Schreibtisch geflattert und da musste ich sofort an Sie denken. Der Herr scheint wie für Sie gemacht zu sein. Charles Augustus Sullivan, Besitzer eines kleinen Stücks Land in der Nähe von Green Hollow, Colorado“, eröffnete er mit einem breiten Lächeln, während er in den Papieren auf seinem Schreibtisch kramte.
Steffiney rutschte, hochrot im Gesicht, auf ihrem Stuhl ein Stück nach vorne. Ihre Aufregung war ihr deutlich anzusehen. Ohne dass sie es merkte, öffnete und schloss sie immer wieder den kleinen Beutel, in dem sie ihr Geld, ein Taschentuch und ein paar Pfefferminzbonbons aufbewahrte.
„Colorado?“, fragte sie etwas zittrig. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine genaue Vorstellung, wo dieser Landstrich liegen sollte. Sie war nicht ungebildet, aber der Westen war noch so unerschlossen. Selbst in den Büchern der Schulkinder waren jenseits der Gründungsstaaten noch viele weiße Flecken auf den Landkarten. Und es war ja schon eine ganze Weile her, dass sie die Schulbank gedrückt hatte.
„Ja, warten Sie“, murmelte Mr. Smith, während er jetzt ein einzelnes Blatt Papier unter einem Stapel Briefe hervorzog. „Ah ja, da haben wir es ja. Wie ich sagte, Charles Augustus Sullivan, wohnhaft auf der Black Creek Ranch nahe Green Hollow im Colorado-Territorium. Wenn man dem Leumunds-Zeugnis seiner Nachbarn glauben will ein sehr angenehmer Mann, der sich für die Gemeinde engagiert und über den jeder nur Gutes zu sagen hat. Er hatte das Unglück seine Frau schon recht früh zu verlieren und ihm sind nur seine vier Söhne geblieben“, fuhr er dann mit einem ernsten Blick fort.
Miss O'Brians Hände krampften sich augenblicklich in die Falten ihrer Schwesternschürze, die sie ganz vergessen hatte abzulegen.
Vier Kinder! Das würde sicherlich eine Herausforderung werden. Vor allem, wenn man so gar keine Erfahrung als Mutter vorweisen konnte.
„Ist das ein Problem?“, fragte der Heiratsvermittler plötzlich misstrauisch, da er ihr Zögern wohl bemerkt hatte.
„Nein, nein gar nicht“, beeilte sie sich zu antworten. Nervös fuhr Steffiney sich durch die kastanienbraunen Haare. Ärgerlich bemerkte sie, dass sie in ihrer Aufregung und der Eile zu Mr. Smith zu kommen, sogar vergessen hatte, das weiße Häubchen abzunehmen.
„Es ist natürlich… Nein, es ist kein Problem“, sagte sie schließlich fest. Sie war zwar bei Weitem noch nicht zu alt, um eigene Kinder zu bekommen, aber eben nach den Maßstäben der Gesellschaft auch nicht mehr die Jüngste. Und von daher konnte es nur von Vorteil sein, wenn Mr. Sullivan bereits Nachwuchs hatte. Nur für alle Fälle.
„Sehr gut. Dann kann ich davon ausgehen, dass Sie das Angebot des Herrn annehmen?“, fragte der Heiratsvermittler dann etwas hastig und Miss O'Brian nickte verwirrt.
Irgendwie hatte sie gedacht, dass noch mehr Formalitäten zu klären wären. Doch jetzt ging alles ganz schnell. Fast zu schnell.
Mr. Smith überreichte ihr ein Schreiben, das bestätigte, dass sie die für Mr. Sullivan von 'Smiths Eheanbahnungsinstitut für Heiraten in den Westlichen Territorien' ausgewählte Braut war. Es folgte ein unordentlich beschriebenes Blatt, auf dem stand, welchen Zug sie nach Westen nehmen musste, wo sie die Richtung wechseln sollte und dass sie in einem Ort namens Cheyenne in eine Postkutsche in den Süden umsteigen musste. Mr. Smith versäumte es nicht zu erwähnen, welches Glück sie hätte, nachdem er ihre unsichere Miene bei der Betrachtung dieses Reiseplans bemerkte. Dass sie so weit mit der bequemen Eisenbahn kam, war keine Selbstverständlichkeit. Noch vor einem Jahr hätte sie von Omaha im Nebraska-Territorium mit der Postkutsche reisen müssen. Was weitaus unbequemer gewesen wäre und sie sehr viel länger auf der Straße gehalten hätte. So wäre es von Cheyenne aus lediglich noch eine Tagesreise bis Green Hollow. Eine lange Fahrt, aber immerhin nur eine.
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