„Ich verstehe das nicht. Was genau hat er eigentlich gegen dich?“, wollte Mia verwirrt wissen. „Er kennt dich doch gar nicht.“
„Er kennt mich“, gab Shana zu und Mia sah sie verwundert an.
Kein Wunder , ging es ihr durch den Kopf. Denn bisher hatte sie noch nie mit ihr über ihre Vergangenheit gesprochen.
„Weißt du, Valenzo ist mein Patenonkel“, erklärte Shana ihr. „Nach dem Tod meiner Mutter habe ich ein paar Sommerferien bei ihm und seiner Familie verbracht. Dabei habe ich auch Juan kennengelernt.“
„Ich hatte keine Ahnung“, erwiderte Mia und sah ihre Freundin fragend an. „War er schon immer so?“
Shana schüttelte den Kopf.
„Als ich ihn mit 12 Jahren kennenlernte, war er ein ganz anderer Mensch“, erklärte Shana ihrer Freundin. „Wir haben sehr viel Zeit miteinander verbracht und er hat mir geholfen, nicht ständig an meine tote Mutter zu denken. Ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber damals waren wir Freunde“, ergänzte sie traurig. „Er war wie der große Bruder, den ich immer haben wollte.“
Unglücklich sah Shana auf den Boden, während Mia ihr eine Hand auf die Schultern legte.
„Wieso ist er dann jetzt so giftig zu dir?“
Weil ich alles kaputt gemacht habe , ging es Shana durch den Kopf. Und als sie sich das Gespräch von damals wieder ins Gedächtnis rief, schossen ihr die Tränen in die Augen.
„Ich wusste, dass du hier bist“, hatte sie leise gesagt, als sie den schwarzhaarigen Mann entdeckte, der vor einem Grab kniete.
Langsam war sie auf ihn zugegangen, bemüht, ihre eigenen Erinnerungen an diesen schrecklichen Ort zu verdrängen. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich damals von Friedhöfen ferngehalten, um nicht an die schreckliche Beerdigung erinnert zu werden. Doch nachdem sie von ihrem Patenonkel die traurige Nachricht erfahren hatte, wusste sie, dass sie ihn hier finden würde, und musste einfach hingehen. Ohne den anderen Bescheid zu sagen, hatte sie sich weggeschlichen. Gut hatte sie verstehen können, warum er gerade niemanden sehen wollte. Ihr war es nach dem Tod ihrer Mutter nicht anders ergangen. Aber sie hatte geglaubt, ihm helfen zu können. So wie er ihr bei ihrer Trauer geholfen hatte.
Als sie Juan erreichte, hatte sie ihm eine Hand auf seine Schulter gelegt, doch er hatte sie nur abgeschüttelt, ohne sich umzudrehen.
„Verschwinde“, war alles, was sie zu hören bekam. Und zwar so leise, dass sie die Worte kaum verstehen konnte.
Aber sie hatte an seiner steifen Haltung erkennen können, wie sehr er unter dem Verlust seiner Frau litt. Hatte seinen Schmerz nur zu gut nachfühlen können, da es ihr nach dem Tod ihrer Mutter nicht anders ergangen war. Und daher konnte sie einfach nicht gehen, sondern hatte versucht, ihn mit Worten zu trösten.
„Es tut mir so leid“, das waren ihre Worte gewesen. „Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich kann dir helfen. Als meine Mutter …“
Weiter war sie nicht gekommen.
„Hau ab!“, hatte Juan sie angeschrien und dann verbittert aufgelacht. „Wie willst du mir helfen? Du bist nur ein kleines Kind. Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.“
Schneidend waren seine Worte gewesen und am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch ihre Füße waren wie festgewachsen. Sie hatte sich nicht bewegen können. Nicht einmal als er sich ohne Vorwarnung wütend zu ihr umdrehte und sie mit seinen braunen Augen eisig ansah.
„Du kannst mir nicht helfen“, hatte er so kalt zu ihr gesagt, dass ihr ganzer Körper zitterte. „Niemand kann das, verstehst du? Und schon gar nicht jemand, der praktisch noch in den Windeln liegt. Werde erst einmal erwachsen.“
Tränen waren ihm die Wangen hinuntergelaufen, die er mit einer Hand fortgewischt hatte, während er an ihr vorbeigegangen war. Wie erstarrt hatte sie ihm hinterhergesehen, völlig unfähig, sich zu bewegen. Sie hatte sich so verletzt gefühlt, schließlich wollte sie ihm doch nur helfen. Aber am schlimmsten waren die letzten Worte gewesen, die er ihr zum Schluss noch einmal zugerufen hatte. Denn damit hatte er ihr nur zu deutlich zu verstehen gegeben, dass er mit ihr nichts mehr zu tun haben wollte.
„Lass mich in Zukunft in Ruhe. Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, bekommst du es mit mir zu tun!“
„Shana?“
Die Worte ihrer Freundin holten Shana in die Gegenwart zurück. Ihre Hände zitterten und sie fühlte, wie sich ein Gefühl von Kälte in ihr ausbreitete. Schon zum zweiten Mal war sie heute an diesen Tag erinnert worden. Dabei wünschte sie sich nur, sie könnte diese Begegnung einfach vergessen. Sie war so dumm gewesen. Nur ein kleines Kind, das es nicht besser wusste.
„Es geht mir gut“, versicherte Shana ihrer Freundin, als sie sich etwas beruhigt hatte.
„Das glaube ich dir nicht“, erwiderte Mia besorgt. „Du bist ganz weiß geworden.“
„Ich habe mich nur an etwas erinnert“, antwortete Shana ausweichend.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann …“, bot Mia an, doch Shana schüttelte den Kopf.
„Danke, aber dabei kannst du mir nicht helfen. Es ist Vergangenheit“, versicherte Shana ihrer Freundin, während ihr Gesicht langsam wieder Farbe bekam. „Ich möchte jetzt nur noch nach Hause. Wir können ja an einem anderen Tag weggehen.“
Mia nickte, sah Shana aber weiter besorgt an.
„Ich lass dich aber nicht alleine gehen“, sagte sie schließlich. „Komm, ich bring dich rüber.“
Erst wollte Shana widersprechen, doch dann sah sie ihre Freundin dankbar an. Sie war froh, nicht alleine nach Hause gehen zu müssen, auch wenn es bis zum Haus ihres Patenonkels, in dem sie eine der Einliegerwohnungen bewohnte, nicht weit war. Noch immer spürte sie ein leichtes Zittern in Armen und Beinen, und auch das Gefühl von Kälte war noch nicht ganz verschwunden. Schon lange hatte sie nicht mehr einen so heftigen Anfall gehabt und sie verfluchte sich selbst. Wieso musste ich diese alte Geschichte auch wieder aufwärmen? , ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte den Mund halten sollen.
Völlig genervt ging Juan mit schnellen Schritten durch die Gänge des Verwaltungsbereiches. Dabei schimpfte er immer wieder leise vor sich hin. Warum musste Papà ausgerechnet Shana als Praktikantin einstellen?, ging es ihm durch den Kopf. Sie ist doch völlig ungeeignet. Außerdem muss sie doch wirklich nicht arbeiten. Sie kommt aus einer reichen Familie. Aufgebracht erreichte er die Buchhaltung. Nur am Rande bekam er mit, dass ihm die Mitarbeiterin einen schönen Feierabend wünschte. Er achtete aber nicht weiter darauf, denn im Moment musste er sich um andere Dinge kümmern. Das Letzte, was er wollte, war, Shana die nächsten vier Wochen jeden Tag sehen zu müssen. Und wenn er sie schon nicht kündigen konnte, dann würde er wenigstens dafür sorgen, dass sie aus seinem Blickfeld verschwand.
Juan machte sich nicht die Mühe, an Ariadnes Bürotür anzuklopfen. Um diese Zeit würde sie bestimmt keine Besprechung mehr abhalten. Umso überraschter war er, als er den schwarzhaarigen Mann erblickte, der ihr am Schreibtisch gegenübersaß und ihn verwundert ansah.
„Alex“, sagte Juan überrascht und etwas frustriert.
Er hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet ihn hier anzutreffen. Wollten sie nicht alle essen gehen?, fragte er sich selbst. Jetzt musste er sein Gespräch mit Ariadne verschieben. Denn auch wenn er in Shana nur einen Störfaktor sah, würde er dies bestimmt nicht vor dem Rest seiner Familie ausbreiten. Er würde halt am Montag noch einmal versuchen, mit ihr zu reden.
„Tut mir leid“, sprach Juan weiter. „Ich wollte nicht stören.“
Fest entschlossen, den Raum schnell wieder zu verlassen, ging Juan ein paar Schritte zurück. Bevor er jedoch die Tür hinter sich zumachen konnte, war sein Cousin aufgestanden und wandte sich ihm zu.
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