„Das stimmt“, gab Joel zu. „Aber Juan wollte mit mir noch ein paar Dinge besprechen. Immerhin werde ich ab nächster Woche für zwei Wochen nicht hier sein.“
„Ariadne hat so etwas erzählt“, gab Jade zu, während sie mit ihren Brüdern zum Verwaltungsbereich zurückging. „Auch, dass Alexander uns heute Abend zum Essen eingeladen hat. Er möchte mit uns feiern. Immerhin läuft die Firma im Moment wieder richtig gut.“
Juan schüttelte mit dem Kopf.
„Ich kann heute Abend nicht“, sagte er bestimmt. Auf ein Familienessen mit Alexander und Ronja hatte er nun wirklich keine Lust.
Doch seine Geschwister gingen gar nicht darauf ein, sondern unterhielten sich darüber, wann und wo das gemeinsame Essen stattfinden sollte. Als Juan das Geplapper der beiden nicht mehr ertragen konnte, ging er etwas schneller, um für Abstand zwischen ihnen zu sorgen. Ausgerechnet jetzt müssen sie darüber reden , dachte er genervt. Und dafür bin ich zum Haus gefahren. Ohne auf seine Umgebung zu achten, ging Juan immer schneller. Man könnte meinen, dass das auch bis später hätte warten können, schimpfte er lautlos vor sich hin. Aber nein, es muss natürlich jetzt sein.
Kurz bevor er die Tür erreichte, die in den Verwaltungsbereich führte, wurde Juan plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Ohne Vorwarnung stieß er mit einer jungen blonden Frau zusammen, die einen Stapel Ordner mit sich herumtrug, die scheppernd zu Boden fielen.
„Verdammt“, sagte Juan gereizt und sah die Frau an.
Als er die Mitarbeiterin erkannte, mit der er zusammengestoßen war, stöhnte er auf. Natürlich , ging es ihm durch den Kopf, Shana van de Renne, die Katastrophenlady. Wer soll es sonst sein.
„Kannst du nicht aufpassen?“, fuhr Juan sie wütend an.
„Tut … mir … leid …“, stammelte Shana. „Ich habe dich nicht gesehen.“
Missbilligend sah Juan erst auf die Ordner auf dem Boden und dann in ihr Gesicht. Sie findet wohl immer eine Ausrede , dachte er genervt.
„Dann solltest du deine Augen aufmachen“, sagte er barsch und ging einfach weiter.
Mit Tränen in den Augen hob Shana die Ordner auf und verschwand in den nächsten leeren Raum. Schweigend sahen Jade und Joel erst ihr und dann Juan hinterher. Schließlich brach Joel das Schweigen und wandte sich an seine Schwester.
„Kümmerst du dich um sie? Dann rede ich ein ernstes Wort mit unserem Bruder.“
Jade stimmte nickend zu und folgte Shana, während Joel sich wütend auf die Suche nach Juan machte. Diesmal war er wirklich zu weit gegangen.
Tränen liefen Shana die Wangen hinunter, als sie die Tür hinter sich zumachte, und sie wischte sie mit einer Hand fort. Die ganze Sache war ihr so peinlich. Ausgerechnet in Juan musste sie hineinlaufen. Dabei hatte sie sich so bemüht, ihm aus den Weg zu gehen. Leider ohne Erfolg.
Shana wusste, dass er nicht gut auf sie zu sprechen war. Schon zu oft waren ihr in letzter Zeit Fehler passiert. Dabei bemühte sie sich wirklich sehr. Seit ihr Patenonkel ihr diese Stelle als Praktikantin gegeben hatte, war sie jeden Morgen pünktlich auf der Arbeit erschienen. Hatte ein freundliches Gesicht aufgesetzt und sich bemüht. Leider reichte dies aber nicht aus, um die anderen Mitarbeiter zufriedenzustellen. Im Gegenteil, überall wo sie bisher eingeteilt worden war, waren ihr Missgeschicke passiert, sodass kaum noch jemand mit ihr zusammenarbeiten wollte. Kein Wunder, dass man sie inzwischen nur noch dafür einsetzte, Ordner ins Lager zu bringen oder Unterlagen zu kopieren. Und jetzt hatte sie auch dabei versagt.
Erneut schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie hasste ihren Job, das konnte Shana nicht leugnen, doch sie hatte keine Alternative. Wenn Juan sie rauswarf, würde sie auf der Straße stehen. Noch war das Jahr nicht um und sie war auch nicht verheiratet, also hatte sie auch keinen Zugang zum Erbe ihres Vaters. Aber genau das brauchte sie, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Selbst wenn sie nur den Pflichtteil bekommen würde.
Wut stieg in Shana auf und verdrängte die Tränen, als sie an die Bedingung im Testament ihres Vaters dachte. Denn nicht nur, dass er sie zwingen wollte, seinen Geschäftspartner zu heiraten, als er noch lebte, er hatte es auch nach seinem Tod versucht. Mithilfe ihres Patenonkels hatte sie dagegen angehen wollen, aber dann hatte Valenzo de Luca im Büro einen Herzinfarkt erlitten und Shana stand plötzlich ganz alleine da. Und aus dem Praktikum, das eigentlich nur als Überbrückung dienen sollte, war ihre einzige Einnahmequelle geworden. Die aber leider nicht besonders großzügig ausfiel.
„Du kommst mit zu mir nach Dornbirn. Da kannst du dir in Ruhe überlegen, was du tun möchtest.“
Verbittert lachte Shana auf, als sie an die Worte ihres Patenonkels dachte, denn daraus war nie etwas geworden. Obwohl sie nun schon seit elf Monaten in Dornbirn war, wusste sie immer noch nicht, was sie in Zukunft tun wollte. Bisher bestand ihre ganze Planung aus dem Ziel, endlich dieses verdammte Jahr hinter sich zu bringen. Dann würde der ehemalige Geschäftspartner ihres Vaters sie hoffentlich in Ruhe lassen und sie konnte damit beginnen, ihre nächsten Schritte zu planen. Aber bis dahin waren es noch gut vier Wochen, und langsam machte Leon Ritter ihr wirklich Angst. Fest entschlossen, sie umzustimmen, hatte er sie in den vergangenen Monaten immer wieder angerufen. In letzter Zeit wurde es sogar so schlimm, dass sich Shana eine neue Nummer besorgen musste. Aber ihr war klar, dass ihn das nicht lange aufhalten konnte. Er würde einen Weg finden, sie zu erreichen, das hatte er bisher jedes Mal geschafft.
Als hätte sie es geahnt, klingelte plötzlich Shanas Handy und sie schreckte auf. Mit zitternden Händen holte sie es aus ihrer Hosentasche, sah auf das Display und atmete erleichtert auf. Mia , dachte sie beruhigt. Wahrscheinlich will sie wissen, wo ich bleibe. Schnell nahm sie das Gespräch an.
„Mia, ich bin gleich da“, informierte Shana ihre Freundin. „Ich muss nur noch die Ordner ins Lager bringen.“
„Beeil dich“, ertönte eine freundliche Frauenstimme am anderen Ende. „Schließlich erwartet niemand von dir, dass du als Praktikantin Überstunden machst. Ich warte auf dich im Fabrikcafé.“
„In Ordnung. Bis gleich“, erwiderte Shana und legte auf.
Die Freude über den gemeinsamen Abend mit ihrer Freundin Mia Brunner dämpfte etwas die Wut und Verzweiflung ihrer aktuellen Situation. Sie hatten sich im Fabrikcafé kennengelernt, als Shana dort für ein paar Wochen ausgeholfen hatte. Zum ersten Mal war sie in dieser Zeit gerne zur Arbeit gegangen. Hatte es geliebt, morgens von ihrer Wohnung aus zur Fabrik zu laufen und die wunderschöne Natur zu genießen. Sie fand es wundervoll, dass ihr Patenonkel, nachdem er das Grundstück für seine Fabrik gekauft hatte, den Charme des alten Guts beibehalten hatte. Gut, in den Räumen waren umfangreiche Umbaumaßnahmen vorgenommen worden. Doch äußerlich sahen die Gebäude mit der weißen Fachwerkhausfassade und den roten Dachziegeln noch genauso aus wie früher. Lediglich der spätere Anbau, in dem das Café und die Verkaufsfläche untergebracht waren, sah etwas anders aus. Denn dieser Bereich hatte kein rotes, sondern ein schwarzes Dach bekommen. Zusätzlich befand sich, mit etwas Abstand, eine halb hohe graue Steinmauer vor dem Gebäude, hinter der mehrere Holztische und Bänke aufgestellt waren. Dort saßen bei gutem Wetter die Gäste, um sich etwas auszuruhen oder einfach nur die schöne Umgebung zu genießen.
Als Shana an diese Zeit zurückdachte, musste sie lächeln. Sie war zwar nur kurz in dieser Abteilung gewesen, aber dadurch hatte sich ihr Leben deutlich verändert. Zum ersten Mal hatte sie eine richtige Freundin gefunden. Jemanden, mit dem sie ihre Träume und Sorgen teilen konnte. Auch wenn sie das Testament ihres Vaters und die dort enthaltenen Bedingungen bisher verschwiegen hatte.
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