Eigentlich war ein Baby erst nach dem Abschluss geplant gewesen. Trotzdem hatten sich Juan und Maya sehr darüber gefreut, als die Schwangerschaft entdeckt worden war, und Pläne geschmiedet. Da für ihn immer feststand, dass er eines Tages die Fabrik seines Vaters übernehmen würde, hatten sie sich in Dornbirn ein Haus gekauft und ganz nach ihren Wünschen eingerichtet. Alles war perfekt gewesen. Sie waren glücklich, verliebt und freuten sich auf die Zukunft. Bis zu dem Tag, als sich alles schlagartig veränderte und die Frau, die er mehr liebte als alles andere, von zwei Jugendlichen getötet wurde.
„Es tut mir so leid“, sagte Juan leise, während er zwei Kerzen anzündete, die er mitgebracht hatte, und auf die Grabplatte stellte. „Ich hätte euch beschützen müssen.“
Wie immer, wenn Juan am Grab seiner Familie stand, wünschte er sich, er könnte die Zeit zurückdrehen. Wenn er damals nicht auf diese Party gegangen wäre, um mit seinen Freunden zu feiern, hätte er sich am nächsten Morgen nicht so schlecht gefühlt. Stattdessen wäre er zusammen mit Maya zur Universität gefahren und sie könnte heute noch leben. Aber so war sie allein zu Fuß unterwegs gewesen, als ein junges Mädchen von einem Jugendlichen belästigt wurde. Als sie ihr zur Hilfe kam, tauchte plötzlich ein zweiter Junge auf und stürzte sich auf Maya.
Von dem jungen Mädchen, das später als Zeugin ausgesagt hatte, wusste er, dass es seiner Frau gelungen war, die beiden Jugendlichen zu vertreiben. Sie waren im Grunde Feiglinge und nur an Geld interessiert gewesen. Doch einer von ihnen hatte bei seiner Flucht Maya zur Seite gestoßen, die daraufhin über ein paar Bretter gestolpert war. Dabei stieß sie so unglücklich mit dem Kopf gegen die Hauswand, dass sie sofort das Bewusstsein verloren hatte und nie wieder aufgewacht war.
Ein lauter Schrei durchbrach die Stille auf dem Friedhof und holte Juan in die Gegenwart zurück. Mit einer Hand berührte er erst den Grabstein seiner Frau und dann den kleinen Engel, um sich zu verabschieden, dann sah er auf die Uhr.
„Verdammt“, fluchte er leise, als er sah, wie spät es schon war. Bereits vor einer Stunde hatte er sich mit seinem Bruder Joel in der Fabrik treffen wollen. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass dieser inzwischen nicht mit anderen Dingen beschäftigt war. Seit dem Herzinfarkt seines Vaters vor gut neun Monaten führten sie zusammen die de-Luca-Designfabrik. Wobei Joel die Hauptarbeit übernommen hatte, damit Juan sein Zweitstudium in Modemanagement nicht abbrechen musste. Jedoch war dieser damals noch davon ausgegangen, dass es sich nur um eine vorübergehende Aufgabe handeln würde. Nur so lange, bis ihr Vater sich so weit erholt hatte, dass er die Leitung wieder übernehmen konnte. Doch das hatte sich inzwischen geändert.
Kälte breitete sich in Juan aus, während er langsam über den Friedhof zurück zu seinem Wagen ging und über das letzte halbe Jahr nachdachte. Nicht viel hatte gefehlt, und sein Vater Valenzo de Luca wäre gestorben. Im Grunde war es nur der schnellen Hilfe durch Ariadne Steinmeyer, der Buchhalterin der Fabrik, zu verdanken, dass er heute nicht auch noch um seinen Vater trauern musste. Sie hatte sofort den Notarzt gerufen und mit der Ersten Hilfe begonnen, sodass es den Ärzten gelungen war, sein Leben zu retten. Trotzdem waren es harte Monate gewesen. Damit seine Mutter ganz für ihren Mann da sein konnte, war sein Zwillingsbruder Joel nach Dornbirn zurückgekehrt, obwohl er eigentlich nie etwas mit dem Familienunternehmen zu tun haben wollte. Und ist geblieben , ging es Juan durch den Kopf und auch dafür würde er seiner Buchhalterin Ariadne ewig dankbar sein. Denn sie hatte etwas geschafft, was nicht einmal seinem Vater gelungen war. Sie hatte seinen Bruder zurück nach Hause geholt. Denn statt jetzt, wo sein Vater die Leitung der de-Luca-Designfabrik offiziell an seinen Sohn Juan abgegeben hatte, in sein altes Leben nach Wien zurückzukehren, war Joel in Dornbirn geblieben. Fest entschlossen, sich nicht nur ein Leben mit Ariadne aufzubauen, die er liebte und heiraten wollte, sondern auch eine eigene Kunstgalerie für Nachwuchskünstler zu eröffnen. Gleichzeitig kümmerten sich Joel und Ariadne um das Tagesgeschäft in der Fabrik, damit Juan sein Studium beenden konnte. Eine Zusammenarbeit, die in den letzten Monaten zwar nicht immer einfach gewesen war, doch im Grunde gut funktionierte.
Als Juan seinen Wagen erreichte, stieg er schnell ein und griff nach seinem Handy, um seinen Bruder in der Fabrik anzurufen. Als niemand abnahm, fluchte er kurz auf und versuchte es bei Ariadne, und hatte Glück.
„Ariadne, hier ist Juan“, begann er zu sprechen, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen. „Ist mein Bruder noch in der Fabrik?“
„Nein“, erklang die geschäftsmäßige Stimme seiner zukünftigen Schwägerin. „Nachdem du nicht zur vereinbarten Uhrzeit hier gewesen bist, dachte Joel, du würdest doch erst morgen kommen. Daher ist er zum Haus gefahren.“
Mist , dachte Juan, während sich seine Hände zu Fäusten ballten. Ich hätte Joel anrufen sollen, dass ich ganz sicher heute komme. Bei seinem letzten Gespräch mit seinem Bruder hatte er dies noch nicht genau sagen können. Da er nicht wusste, ob er pünktlich aus Wien wegkommen würde. Zwar hatten sie trotzdem einen Termin für heute ausgemacht, doch dieser war nicht fest gewesen. Und jetzt ist er ausgerechnet beim neuen Haus , ging es ihm durch den Kopf.
„Danke“, sagte Juan ernst und legte auf, während er darüber nachdachte, was er tun sollte.
Natürlich freute er sich für seinen Bruder. Ariadne war eine tolle Frau und er wünschte den beiden alles Gute. Doch jedes Mal, wenn er das Gebäude sah, das gerade für seinen Bruder umgebaut wurde, durchzog ihn ein heftiger Schmerz. Genauso wie er früher mit Maya, war nun sein Bruder fest entschlossen, sich mit seiner Frau ein Heim einzurichten, und das weckte in ihn schmerzhafte Erinnerungen. Aus diesem Grund vermied er es normalerweise, auch nur in die Nähe dieses Gebäudes zu kommen. Doch er wollte nicht bis morgen warten. Ab nächste Woche würde sein Bruder für zwei Wochen nicht in der Fabrik sein und daher mussten sie eine ordentliche Übergabe machen. Er würde daher einfach hinfahren, seinen Bruder schnappen und sofort wieder mit ihm verschwinden. Dann konnten sie sich in Ruhe in seinem Büro unterhalten. Ja , dachte er ernst, das ist die perfekte Lösung.
Als Juan seinen Wagen nur wenige Meter vor dem Grundstück seines Bruders parkte, konnte er seine Überraschung nicht verbergen. Joels neues Zuhause war wirklich kaum noch wiederzuerkennen. Die hässliche Fassade, die seine zukünftige Schwägerin Ariadne so abgestoßen hatte, konnte sich inzwischen sehen lassen. Es war ein Mix aus Schwarz und Weiß, mit vielen Fenstern, die für eine gute Beleuchtung sorgen sollten. Außerdem hatte sein Bruder tatsächlich einen Teil der Wand noch einmal öffnen lassen, um dem Bereich der zukünftigen Galerie im Erdgeschoss eine runde Form zu geben.
Kopfschüttelnd ging Juan auf das Gebäude zu. Als sein Bruder ihm von dieser Idee berichtete, hatte er ihn für verrückt gehalten. Denn durch diese Baumaßnahmen hatte sich die Fertigstellung des Hauses um fast drei Monate verzögert. Drei Monate, die Joel und Ariadne länger in der kleinen Einliegerwohnung seiner Eltern bleiben mussten. Doch wenn er sich das Haus jetzt ansah, musste er zugeben, dass die Entscheidung richtig gewesen war. Durch den runden Galeriebereich sah das Haus gleich ganz anders aus. Außerdem gab es nun genügend Platz für einen großen Balkon, der nur von der oberen Etage aus betreten werden konnte.
Wirklich eine gute Idee , dachte Juan anerkennend und nickte einer Gruppe Handwerker zu, die gerade Farben und Pakete in den Galeriebereich trugen. Da auf dem Bereich um das Gebäude herum Parkmöglichkeiten entstehen sollten, hatte es für einen gemütlichen Garten keinen Platz mehr gegeben. Eine Tatsache, die sein Bruder so nicht hinnehmen wollte. Gut, ein Balkon war nicht das Gleiche, doch immerhin ein Kompromiss. Wobei die schwarze halb hohe Wand, die sich farblich dem Erdgeschoss anpasste, für etwas Privatsphäre sorgte.
Читать дальше