Schnell, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, stapelte Shana die Ordner, die sie auf einen der Tische abgelegt hatte. Sie musste diese nur noch schnell ins Archiv bringen, dann konnte sie Feierabend machen. Bevor sie aber das Zimmer verlassen konnte, klingelte ihr Telefon erneut und sie stöhnte auf.
„Was denn noch?“, flüsterte sie leise und griff nach ihrem Handy.
Diesmal machte sie sich nicht die Mühe, erst auf das Display zu schauen, sondern ging einfach ran.
„So schnell bin ich nun auch wieder nicht“, sagte Shana lachend. „Gib mir noch zehn Minuten.“
„Ich denke, das bekomme ich hin.“
Als Shana die männliche Stimme am anderen Ende hörte, ließ sie fast ihr Handy fallen. Das kann doch nicht sein , dachte sie verwirrt. Woher hat er so schnell meine neue Nummer?
„Was wollen Sie?“, fragte Shana mit zitternder Stimme. „Wieso lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?“
„Was ich will?“, antwortete Leon Ritter wütend. „Ich will, dass du endlich mit den Spielchen aufhörst und nach Wien zurückkommst. Hast du eigentlich eine Ahnung, was du mit deinem Trotz angerichtet hast? Es gibt bereits Gerüchte in der Firma, dass diese geschlossen wird. Einige meiner Mitarbeiter haben sogar bereits gekündigt, weil sie Angst haben, sonst ohne Job dazustehen. Das Jahr ist bald um. Danach wird alles, was dein Vater aufgebaut hat, in die Hände einer Stiftung fallen. Willst du das wirklich zulassen?“
„Das war die Entscheidung meines Vaters und nicht meine“, stellte Shana klar. „Sie können sich bei ihm bedanken. Und jetzt lassen Sie mich endlich in Ruhe.“
Bevor der ehemalige Geschäftspartner ihres Vaters noch etwas erwidern konnte, legte Shana auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi und sie musste sich hinsetzen. Natürlich war es ihr nicht egal, dass die ehemaligen Angestellten ihres Vaters ihre Jobs verlieren würden, wenn die Firma an die Stiftung ging. Aber sie kannte diese Leute nicht. Also warum sollte ich, nur um deren Arbeitsplätze zu sichern, einen Mann heiraten, dem ich völlig gleichgültig bin?, ging es ihr durch den Kopf. Denn eins wusste sie ganz genau. Leon Ritter ging es nur um die Anteile ihres Vaters und um die Kontrolle über das Unternehmen. Sie war im Grunde nur ein Mittel zum Zweck. Und damit konnte sie nicht leben.
„Alles in Ordnung?“
Verwirrt drehte sich Shana um, als sie die Frage hörte, und sah die rothaarige Frau schweigend an. Jade , ging es ihr durch den Kopf und sie schluckte. Nicht sie auch noch.
„Was machst du denn hier?“, fragte Shana leise, obwohl sie wusste, dass es eine dumme Frage war.
Jade war immerhin eine de Luca und seit dem Rücktritt ihres Vaters eine Leiterin der Fabrik. Wenn auch nur auf dem Papier.
„Es sind Semesterferien“, antwortete Jade schulterzuckend auf Shanas Frage und sah sich kurz im Raum um. „Da wollte ich meine Familie besuchen.“
Dann wurde sie ernst.
„Joel und ich haben gesehen, was passiert ist. Ich meine deinen Zusammensturz mit meinem Bruder Juan“, ergänzte Jade, als sie die Verwirrung in Shanas Gesicht sah.
Sofort wurde diese rot.
„Das war keine Absicht“, erwiderte Shana verlegen. „Ich hab nicht aufgepasst.“
Jade schüttelte den Kopf und ging auf sie zu.
„Es war nicht deine Schuld“, stellte Jade klar. „Jedenfalls nicht nur. Schließlich hat mein Bruder auch nicht aufgepasst.“
„Aber …“
Jade ließ Shana nicht ausreden, sondern winkte ab.
„Juan hätte nicht so mit dir reden dürfen“, sagte Jade ernst. „Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Bisher hat er noch nie eine Mitarbeiterin verbal angegriffen. Vielleicht liegt es daran, dass Mayas Todestag näher rückt. Obwohl das natürlich keine Entschuldigung ist.“
Schweigend hörte Shana zu und nickte. Schon möglich, dass dies der Grund für Juans harte Worte war. Aber sie glaubte nicht wirklich daran. Der Ausbruch heute war nämlich nicht der erste gewesen. Schon öfter in den letzten Monaten hatte Juan sie wütend zurechtgewiesen. Es war fast so, als würde er darauf warten, dass sie einen Fehler machte. Und das tat weh. Schließlich hatten sie sich früher einmal sehr gut verstanden.
Plötzlich musste Shana wieder an ihre erste Begegnung denken. Damals war sie erst 12 Jahre alt gewesen und hatte um ihre verstorbene Mutter getrauert. Da ihr Vater sich um wichtige Geschäfte kümmern musste oder wollte, durfte sie die Sommerferien bei ihrem Patenonkel verbringen. Und es war, als würde sie nach Hause kommen. Zum ersten Mal seit dem Tod von Sonja van de Renne fühlte sie sich wieder geborgen und geliebt. Valenzo de Luca und seine Frau Sophia kümmerten sich rührend um das kleine verstörte Mädchen, das sie damals war. Und am liebsten wäre sie für immer dort geblieben. Dann, in ihrer letzten Ferienwoche, lernte Shana schließlich Juan kennen, der seine Eltern für ein paar Tage besuchen wollte. Er war bereits 20 und somit einige Jahre älter als sie, doch Shana fühlte gleich eine gewisse Verbundenheit. Sie beide liebten die Natur, und Juan war gerne bereit, ihr die Schönheiten seiner Umgebung zu zeigen. Und so wurde diese Woche zu einer ihrer schönsten Erinnerungen.
„Vielleicht liegt es daran, dass Mayas Todestag näher rückt.“
Erneut ließ sich Shana diese Worte durch den Kopf gehen. Vielleicht hat Jade doch recht , dachte sie traurig. Möglicherweise war das der Grund, warum Juan sich ihr gegenüber so verhielt. Immerhin hatte sie ihn in einer Situation erlebt, die er lieber für sich behalten hätte. Kein Wunder, dass er wollte, dass sie aus seinem Leben verschwand.
„Lass mich in Zukunft in Ruhe. Wenn du mir noch einmal zu nahe kommst, bekommst du es mit mir zu tun!“
„Shana? Alles in Ordnung.“
Jades Worte holten Shana in die Gegenwart zurück und sie schüttelte die Bilder aus der Vergangenheit ab. Sie wollte sich nicht an Juans harte Worte erinnern, die ihr damals als Kind zum zweiten Mal den Boden unter den Füßen weggerissen hatten.
„Es geht mir gut“, log sie und hoffte, Jade würde nicht weiter nachhaken.
Immerhin hatte sie versprochen, nie mit jemandem darüber zu sprechen. Und sie würde es auch heute nicht tun.
„Du hast bestimmt recht“, ergänzte sie mit einem schwachen Lächeln. „Wahrscheinlich hatte dein Bruder nur einen schlechten Tag. Ich werde ihm in Zukunft einfach aus dem Weg gehen.“
Jade nickte.
„Das wird das Beste sein.“
Dann fiel ihr Blick auf die Ordner, die immer noch auf dem Tisch lagen.
„Wo bist du gerade eingeteilt?“, wollte Jade wissen und sah Shana fragend an.
„Im Verwaltungssekretariat“, antwortete Shana verwirrt. „Wieso?“
„Oh“, war alles, was Jade antwortete, bevor sie angestrengt nachdachte. „In diesem Bereich dürfte es schwer werden, meinem Bruder aus dem Weg zu gehen“, sagte sie nachdenklich. „Besonders jetzt, wo Juan für ein paar Wochen täglich ins Büro kommen wird. Da wäre es schon besser, du würdest in eine andere Abteilung wechseln.“
„Das wird nicht möglich sein“, sagte Shana leise und sah verlegen zu Boden. Es war ihr peinlich, eingestehen zu müssen, dass sie bereits überall kläglich versagt hatte. „Ich habe in den anderen Abteilungen nicht gerade einen guten Eindruck hinterlassen.“
„Ja, Joel hat so etwas erwähnt“, gab Jade nachdenklich zu. Dann kam ihr eine Idee. „Warst du auch schon in der Produktion?“, wollte sie mit ernster Miene wissen. „Mein Vater hat mal erzählt, du würdest deine Kleider selber nähen. Und wenn ich mir deine Sachen so anschaue, bist du darin ziemlich gut.“
Kurz sah Shana an sich hinunter und betrachtete die graue Stoffhose, die dazu passende Weste und den roten Pullover. Es stimmte, sie hatte ihre Kleidung selbst genäht. Aber eher aus Verzweiflung, da sie sich mit ihrem geringen Gehalt keine guten Kleidungsstücke leisten konnte. Aber sie würde nicht behaupten, dass sie großes Talent besaß. Im Gegenteil! Ihr Vater hatte oft genug betont, dass ihre Nähkünste eher stümperhaft waren und in keiner Weise mit den Arbeiten ihrer Mutter mithalten konnten.
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