„19“, korrigierte Juan seinen Bruder, ohne nachzudenken. „Sie hatte im Januar Geburtstag.“
Irritiert sah Joel ihn an.
„Woher weißt du, wann Shana Geburtstag hat?“, fragte er verwundert.
Juan zuckte mit den Schultern. Er wollte seinem Bruder nicht die Wahrheit sagen. Was sollte das auch bringen? Das alles war schon so lange her, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. Oder besser gesagt, erinnern wollte.
„Aus den Personalunterlagen“, log er daher und hoffte, dass sein Bruder diesen Schwindel nicht durchschaute. „Ich wollte wissen, wer für mich arbeitet. Immerhin bin ich jetzt, wo Papà in den Ruhestand gegangen ist, für alles verantwortlich.“
„Verstehe“, sagte Joel und sah seinen Bruder eindringlich an. „Ist ja auch egal. Trotzdem ist sie noch sehr jung und verletzlich. Sie hat erst vor einigen Monaten ihren Vater verloren und ist noch in Trauer. Also halt dich ihr gegenüber etwas zurück.“
„In Ordnung“, versprach Juan seinem Bruder.
Es würde sowieso zu keinem weiteren Zusammentreffen kommen. Nicht wenn er es verhindern konnte. Zwar wusste er bisher noch nicht, wohin er sie schicken sollte, aber das Fabrikgelände war groß. Im Ernstfall würde er sie halt ins Archiv schicken, damit sie die Ordner nach Alphabet sortierte.
Joel, der nichts von den Überlegungen seines Bruders ahnte, war zufrieden mit dem Versprechen und wandte sich einem anderen Thema zu.
„Wegen der Übergabe“, begann er zu berichten. „Ich habe dir alles Wichtige auf deinen Schreibtisch gepackt, zusammen mit einigen Notizen. Außerdem habe ich dir meine aktuelle E-Mail-Korrespondenz weitergeleitet. Wenn sonst noch etwas sein sollte, kannst du mich ja jederzeit telefonisch erreichen. Oder du sprichst mit Ariadne.“
„Sehr gut“, antwortete Juan, während er die Dokumente durchsah. Joel hat wirklich interessante Ideen , ging es ihm dabei durch den Kopf. Alle Vorschläge waren gründlich recherchiert und mit geringem Aufwand realisierbar. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell sich sein Bruder in die Abläufe der Fabrik eingearbeitet hatte. Besonders vor dem Hintergrund, dass dieser in der Vergangenheit eigentlich nie im Familienunternehmen tätig gewesen war.
Am Anfang war Juan skeptisch gewesen, ausgerechnet seinem Zwillingsbruder die Hauptleitung für die Fabrik zu übertragen. Zwar hatte dieser auch Modedesign studiert, doch von seinem Studium nie einen Gebrauch gemacht. Stattdessen war Joel das geworden, was er sich schon als kleiner Junge gewünscht hatte. Ein Maler, der seine Werke in jeder beliebigen Galerie der Welt ausstellen durfte. Wenn seine Fans jetzt sehen könnten, wie er sein Talent dazu verwendete, neue Modekollektionen zu entwerfen, würden sie ihn bestimmt für verrückt halten. Zum Glück war sein Bruder aber von Anfang an nur als Manager aufgetreten und hatte seine Werke unter dem Pseudonym J. D. Lay herausgebracht. Dadurch hatte er sich seine Privatsphäre erhalten und konnte ungestört auch andere Projekte in Angriff nehmen. Wie etwa seine eigene Galerie für unbekannte Künstler in Dornbirn.
„Schön“, sagte Juan schließlich, als er alle Papiere überflogen hatte, und sah seinen Bruder an. „Auf den ersten Blick sieht soweit alles gut aus. Ich werde mich nächste Woche genauer damit befassen. Auf jeden Fall sind ein paar interessante Ideen dabei.“
Plötzlich erinnerte sich Juan an eine andere Geschichte und seine Miene wurde ernst.
„Was ist eigentlich aus der Sache mit Jan Neiger geworden?“, fragte er angespannt. „Gibt es schon etwas Neues?“
Joel nickte.
„Dirk Levert, Alexanders neuer Firmenanwalt, hat mir heute früh eine E-Mail geschrieben, die ich dir weitergeleitet habe“, berichtete er gelassen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wie erwartet wurde die Klage auf Abfindung abgewiesen. Alles andere hätte mich auch gewundert. Immerhin wurde er zu keiner Zeit von uns diskriminiert. Im Gegenteil, es war seine freie Entscheidung zu kündigen.“
„Das sind gute Neuigkeiten“, sagte Juan beruhigt.
Nach den Problemen im letzten Jahr, in dem aufgrund von Verleumdungen die Firma einige finanzielle Verluste einstecken musste, war die Klage ihres ehemaligen Mitarbeiters wie ein weiterer Schlag ins Gesicht gewesen. Dieser hatte behauptet, dass er nur aufgrund seines Alters von Valenzo de Luca nicht befördert wurde. Stattdessen hatte man ihm die deutlich jüngere Ariadne Steinmeyer vor die Nase gesetzt, die praktisch gerade erst ihr Studium abgeschlossen hatte. Dass Ariadne für die Leitung der Buchhaltung trotz ihrer geringeren Erfahrung deutlich besser geeignet gewesen war, hatte er nicht sehen wollen. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihm nicht sein Alter, sondern seine ungenügenden Leistungen die Beförderung gekostet hatten.
„Dann können wir die Sache ja abhaken“, ergänzte Juan zufrieden.
„Hoffentlich“, meinte Joel nachdenklich. „Ich jedenfalls hätte nichts dagegen. Nach allem, was er sich geleistet hat, fand ich es sowieso eine Frechheit, uns auf Abfindung zu verklagen. Ehrlich, ich bereue es richtig, ihn nicht selbst gefeuert zu haben“, sagte Joel zornig.
Verwundert sah Juan seinen Bruder an. Es war nicht leicht, ihn so aus der Ruhe zu bringen. Aber er konnte ihn verstehen. Auch er hätte Jan Neiger gerne die Meinung gesagt. Denn nicht nur, dass er aus Wut auf Ariadne einen Stapel Rechnungen nicht überwiesen hatte, er musste auch noch ihren Vater verleumden. Angeblich hätte dieser gewisse Erwartungen an seine finanzielle Unterstützung geknüpft, als er Ariadnes Studium finanzierte. Eine Äußerung, die von ihnen allen nicht sehr gut aufgenommen wurde. Schließlich waren für dieses private Stipendium nur Ariadnes Leistungen ausschlaggebend gewesen. Die Behauptung, dass ihr Vater sich etwas anderes als eine gut ausgebildete Mitarbeiterin erhofft hatte, war nicht nur falsch, sondern eine Beleidigung.
„Sollte er keine Ruhe geben, sag mir Bescheid. Ich kümmere mich dann darum“, versprach Juan.
„Nicht nötig“, versicherte Joel. „Mit dem werde ich schon fertig! Ich werde nicht zulassen, dass er dem Ruf unserer Firma oder dem meiner Frau schadet.“
„In Ordnung“, sagte Juan anerkennend, dann schüttelte er verwundert den Kopf. „Du klingst immer mehr wie ein Chef. Vielleicht solltest du deinen Leitungsposten doch behalten.“
„Netter Versuch“, erwiderte Joel schmunzelnd. „Aber keine gute Idee. Glaub mir, früher oder später würden wir uns beide wahnsinnig machen. Außerdem werde ich mit meinen Bildern, der Galerie und Ariadne genug beschäftigt sein. Nicht zu vergessen von dem …“
Verwirrt sah Juan seinen Bruder an, als dieser seinen letzten Satz nicht beendete, sondern stattdessen seine Finger verkrampfte. Bevor er jedoch nachhaken konnte, klopfte es an die Tür und seine Schwester kam ins Zimmer. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich neben Joel und schenkte Juan einen wütenden Blick.
„Ich hoffe, du hast schon mit ihm geredet“, wandte sie sich an Joel, der kurz mit dem Kopf nickte.
Anders als sein Bruder schien sich Joel über die Unterbrechung zu freuen und Juan fragte sich, was er eigentlich sagen wollte. Es musste etwas Wichtiges sein. Doch wieso machte er dann so ein großes Geheimnis daraus?
„Juan?“
Die Stimme seiner Schwester riss ihn aus seinen Gedanken und er sah sie fragend an.
„Ich wollte wissen, ob du vorhast, dich bei Shana zu entschuldigen“, wiederholte Jade ihre Frage und Juan stöhnte auf.
„Müssen wir das alles jetzt wirklich noch einmal durchkauen?“, erwiderte er gereizt, ohne auf die Frage seiner Schwester einzugehen. „Ich habe wirklich Besseres zu tun.“
Missbilligend sah Jade ihren Bruder an, doch bevor sie etwas erwidern konnte, meldete sich Joel zu Wort.
„Juan hat versprochen, sie in Zukunft in Ruhe zu lassen“, berichtete er seiner Schwester. „So etwas wie heute wird also nicht noch einmal vorkommen.“
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