1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 „Pfadfinder?“ Verwunderung machte sich bei Sybille breit. Ihr war schon seit Tagen aufgefallen, dass ihre Tante blechweise Plätzchen backte, aber zum Tee nie welche auf dem Tisch standen.
„Ja, einmal im Monat kommt der Gruppenleiter vom Stamm Parzival und holt die Kekse ab. Die Wölflinge verkaufen sie, und das Geld wird für gemeinnützige Zwecke gespendet oder kommt den Pfadfindern für Gruppenreisen oder anderen Aktionen zugute.“
„Aha! Das kennt man ja sonst nur aus dem Fernsehen. Ich dachte, das mit dem Keksverkauf ist so ein Mythos aus Amerika. Dass das auch hier gemacht wird, wusste ich nicht.“
„Doch, doch.“ Hilde wandte sich schnell ihrer Arbeit zu. Sockenstopfen war ja auch so interessant. Sie hoffte nur, dass Sybille ihren Schwindel nicht bemerkte. Ach, so viel musste sie ihr noch erzählen. Sie hoffte, dass die Zeit noch ausreichte. Wenn Sybille bei ihr wohnte, würde sich sicherlich die eine oder andere Gelegenheit ergeben.
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Am nächsten Tag fuhr Sybille zurück nach Hannover. Der Abschied fiel Hildegard nicht leicht. Als sie weg war, fühlte sie sich körperlich noch geschwächter als sonst. Sie griff zu ihren Morphium Tabletten. Ihr einziger Trost war, dass ihre Nichte bald wieder bei ihr sein würde. Das war das Wichtigste überhaupt.
Seit einer Weile wusste sie, dass ihre Zeit ablief, dass es zu Ende ging. Doch wann hätte sie Sybille von ihrer Krankheit erzählen sollen? Am Telefon? „Du, übrigens, ich bin sterbenskrank!“ Zu ihrem Geburtstag? Bei ihrem Rückruf auf ihre Karte hatte sie sie lediglich zu sich auf ein Wochenende einladen wollen. Aber nun hatte Michael ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. In so einer Lage konnte kein Mensch noch eine Hiobsbotschaft verkraften.
Endlich ließen die Schmerzen nach. Bald, ganz bald würde sie mit Sybille sprechen. Es gab ja so viel zu erzählen. Sie musste Vorkehrungen treffen. Aufschreiben, was sie noch alles ihrer Nichte sagen wollte, falls sie nicht selber mehr dazu kam. Die Lügerei sollte ein Ende haben.
Hilde hoffte inständig, dass sie dazu den Mut finden würde. Aber sie hatte Angst, dass das liebevolle Bündnis zwischen ihr und Sybille zerreißen, oder ihre Nichte es nicht verkraften würde. Das würde sie sich nie verzeihen können.
Sybille war tatsächlich am Sonntagmittag wieder in Oldenburg bei ihrer Tante. Nach einem deftigen Essen mit Schweinebraten, selbstgemachten Klößen, Gemüse aus dem eigenen Garten und als eingemachtem Birnenkompott als Nachtisch legte sich Hilde erschöpft ins Bett. Auch ihr tat jetzt die Ruhe der Mittagspause gut.
Sie hatte es genossen, sich mal bekochen zu lassen, anstatt schon am frühen Sonntagvormittag, wenn der Rest der Familie noch mit dem Hintern im Bett gelegen hatte, mit den Töpfen zu jonglieren. Nach dem Essen waren die Herren gern ins Wohnzimmer gewandert, während sie mit dem Abwasch allein in der Küche zurückgeblieben war, und hatten bis zum Abend den Sportübertragungen im Fernsehen gefrönt.
Bei schönem Wetter hatte sich Sybille dann gern in den Garten verzogen und vor sich hin geprudelt. Dort hatte sie Ruhe und Zeit zum Nachdenken gehabt. Bei schlechtem Wetter hatte sie nach dem Mittagessen oft einen Kuchen gebacken. Danach war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich zu ihrem Mann und Sohn aufs Sofa zu gesellen.
Michael hatte diese Sonntage genossen, an denen er gemütlich auf der Couch gefläzt, Sport bis zum Abwinken geschaut und dabei mit seinem Sohn gefachsimpelt hatte, während er von seiner Frau von vorn bis hinten bedient und verwöhnt worden war. Er wäre ja schließlich derjenige, der die Kohle für die Brötchen nach Hause brachte und die ganze Woche von früh bis spät malochte und sich für die Familie krumm machte. Am Montag, nach der Arbeit, hatte Sybille leise murrend das Chaos des Sonntagsszenarios beseitig, das ihr Göttergatte hinterlassen hatte. Er hatte davon ja nichts mitbekommen, wenn er auf Montage oder im Büro gewesen war.
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Am Donnerstag der vorherigen Woche war Sybille am späten Nachmittag bei ihrem alten Zuhause in Hannover angekommen. Das Haus stand einsam und verlassen in der Dunkelheit. Laubberge hatten sich vor der Haustür und in der Blumenrabatte vor dem Haus angesammelt. Dieser verkommene Anblick tat ihr in der Seele weh. Dabei war sie gerade mal eine gute Woche weg gewesen. Die Luft im Haus roch abgestanden, und es war eiskalt. Auch die Blumen auf der Fensterbank hatten schon bessere Tage erlebt. Mit hängenden Blüten und Blättern fristeten sie ihrem sicheren Tod entgegen. Erste-Hilfe-Maßnahmen mit Wasser kamen für einige ihrer geliebten Pflanzen schon zu spät.
In ihrer dicken Winterjacke ging Sybille durch das Haus und drehte die Thermostate der Heizkörper auf volle Pulle, nachdem sie kurz durchgelüftet hatte.
Auf dem Dachboden standen noch ein paar Umzugskartons. Mühselig transportierte Sybille die Kartons auf der schmalen Leiter durch die Luke. Fast verlor sie das Gleichgewicht auf der Schmalen stiege, als ein riesiges Exemplar von Winkelspinne auf der Hinterseite eines Kartons hervorkrabbelte. Mit einem verächtlichen Schreckensschrei warf sie den Karton so weit weg wie möglich.
Das arme Tierchen starb entweder am Schock durch den herumwirbelnden Untergrund oder an dem Karton, der direkt auf es fiel. Kreidebleich und mit zittrigen Beinen erreichte Sybille den sicheren Boden. Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht stupste sie den Karton mit einem Besen an, mit dem sie sich vorher bewaffnet hatte. Ihr tat es schon irgendwie leid, dass das kleine Spinnentier sein Leben verloren hatte, anderseits war sie froh, dass sie sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen musste. Gegen ihre Angst vor Krabbeltieren, insbesondere Spinnen, kam sie nicht an.
Hilflos stand Sybille vor dem großen Kleiderschrank. Was sollte sie einpacken? Was konnte weg? Von Gefühlen überwältigt, fing sie an, zu weinen. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass diese Situation eintreffen würde. Sie schleppte sich in die Küche und suchte sich halbherzig etwas zum Abendbrot. Mit einem gesättigten Bauchwürde die Aufgabe besser zu bewältigen sein.
Zwei Scheiben Brot, das sich schon an beiden Seiten wölbte, und ein Stück Käse war alles, was noch halbwegs essbar war. Die Salami und den Kochschinken hatte sie gleich entsorgen müssen. Das karge Abendbrot spülte Sybille mit mehreren Gläsern koffeinhaltiger Limonade runter.
Sybille machte sich selber Mut, schnappte sich die Rolle mit den Müllsäcken und machte sich daran, ihre Kleidung auszusortieren. Anfangs eher halbherzig schob sie die Kleidungsstücke von rechts nach links. Danach wurde rigoros alles weggeworfen, was seit Jahrzehnten im Schrank vor sich hinschlummerte, in der Hoffnung, dass es irgendwann doch noch mal passen könnte.
Nach anderthalb Stunden belohnte sich Sybille mit ihrer Lieblingsserie im Fernsehen, einer Tafel Trauben-Nuss-Schokolade und einer Tüte Chips. Der Rest der Limonade musste auch noch daran glauben. Mit einem flauen Gefühl im Magen und aufkommendem schlechten Gewissen fiel Sybille gegen Mitternacht in einen unruhigen Schlaf.
Der Besuch beim Arbeitsamt am nächsten Tag trug auch nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Nachdem Sybille eine Stunde auf dem Flur gewartet hatte, machte ein anderer Antragsteller sie darauf aufmerksam, dass sie eine Nummer aus dem Automaten am Ende des Gangs ziehen musste. Der mitgeteilte Termin legte nur den Tag fest und ob man am Vor- oder Nachmittag vorstellig werden sollte, teilte ihr der nette Mann im gebrochenen Deutsch mit. Verärgert schaute sie auf die Uhr. Halb zehn. Es nützte ja nichts, wenn sie heute noch jemals drankommen wollte. Also zog Sybille eine Nummer, und zwei Stunden später saß sie auch schon im Büro der Sachbearbeiterin, die gestresst von der Frühstückspause und einer Geburtstagsfeier im Nachbarbüro im Akkord auf ihrer Tastatur herumhackte. Ihre Mittagspause um zwölf rückte näher und bis dahin mussten die bestellten Antragssteller auf dem Flur abgearbeitet sein. Überminuten wollte die junge Sachbearbeiterin nicht machen. Ohne von ihrem Bildschirm aufzuschauen, sprach sie Sybille an. „Setzen Sie sich. Legen Sie Ihre Unterlagen bitte auf den Tisch. Den Personalausweis dabei?“
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