Carl Hauptmann - Mathilde
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Hauptmanns Augenmerk liegt insbesondere auf der Genauigkeit der Milieubeschreibung und der psychologischen Verfassung seiner Protagonistin.
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Table of Contents
Erstes Buch1
Im Gemeindehaus
2
Der erste Brief nach Haus
3
Fabrikmänner
4
Wie Saleck sich nähert
5
Wie Skrupel erwachen
6
Mathildes heimliches Zögern
7
Saleck und Simoneit messen sich
8
Mathilde geht nun offen mit ihm
9
Mathildes Abschied von den Böhmischen
Zweites Buch10
Sie wohnt bei frommen Alten
11
Das Weihnachtsfest
12
Wie sie sich Mutter fühlt
13
Salecks Krankheit
14
Mathilde sieht einen aus der Heimat
15
Wie Mathilde zum zweiten Male dem aus der Heimat begegnet
16
Heimliche Unruhe
17
Salecks Nöte
18
Unteroffiziers-Ball
19
Saleck irrt umher
Drittes Buch20
Der alte Hallmann war ein Riese
21
Mathilde fährt Ernst auf Urlaub nach
22
Wie nun Mathilde heimlicher Kummer nagt
23
Mathilde ist zum zweiten Male Mutter
24
Der alte Hallmann kommt dahinter
25
Mathilde wartet auf Ernsts Brief
26
Mathilde fährt heim
27
Mathilde trifft Ernst heimlich
28
Mathilde wird nun klar
Viertes Buch29
Mathilde lernt auf seltsame Weise Dominick kennen
30
Im Zirkus
31
Dominicks Irrgänge
32
Mathildes Kind stirbt
33
Die trauernde Mathilde bei Dominick
34
Dominicks Selbstverachtung
35
Dominick beginnt, sich ganz zu verlieren
36
Dominicks Wege
37
Dominicks Ende
Fünftes Buch38
Die Heintken bringt Mathilde eine junge Schwester
39
Wie Mathilde mit der Schwester lebt
40
Die junge Schwester verwahrlost
41
Die junge Schwester kommt unter Kontrolle
42
Die alte Heintke starb
Sechstes Buch43
Mathilde träumt vom Frühling
44
Simoneit ist einer der Haupträdelsführer
45
Mathilde versöhnt sich mit Simoneit
46
Mathilde ist entschlossen, Simoneit zu heiraten
47
Mathilde ist Simoneits Frau
48
Wie Mathilde Simoneit das erste Kind geboren
49
Mathilde wappnet sich
50
Wie aus Mathilde Leid hervorsah, wie aus einer Seherin
51
Wenn nun eine am Brunnentroge steht, kennt man sie
Carl Hauptmann
Mathilde
Zeichnungen aus dem Leben einer armen Frau
Impressum
ISBN: 9783955013622
2014 andersseitig
Covergestaltung: Erhard Koch
Digitalisierung: Erhard Koch
andersseitig Verlag
Dresden
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Erstes Buch
1
Im Gemeindehaus
»Redi ni vom Vater, Mutter! Besser, dass er überhaupt ni mehr heemkummt.« Mathilde sagte die Worte mit dem gänzlich harten Gesicht, das die Fünfzehnjährige fast niemals in ein Lachen legte, solange sie daheim war. Und daheim heißt dabei auch nichts weiter, als in einer großen Eckstube im Gemeindehaus, in der man fast immer Holz feuerte, und in der die beiden Öfen, ein alter Kachelofen und ein kleiner eiserner, mit hängenden Türen und Ritzen, die nie verschmiert wurden, im Winter oft so rauchten, dass man vor Qualm beim Eintreten keine Menschen sah, nur wie offene Feuer durch den Rauch, und Krachen und Prasseln der gestohlenen Scheite hörte, bis man dann langsam auch Insassen, die alte Heintke und ihre Schwiegertochter und ein paar kleine Gesichter mit Strickstrümpfen am Tisch, und endlich Mathilde, die frische Fünfzehnjährige, die unten in der Fabrik auf Arbeit ging, gewahr wurde, Mathilde immer mit einem harten Gesicht, jung und blond, wie sie war, mit energischen, vorwurfsvollen Lippen, barsch und ablehnend.
Die Wände der Stube waren wie die einer Räucherkammer, so schwarz und geteert, und in dem Raum stand auch schwarz und gebrechlich nur das Allergeringste, was eine Familie zur Lebensnotdurft wirklich haben muss: Ein Tisch und eine Lampe, die zum allgemeinen Stubenrauch ungehindert noch den ihrigen zugab, ohne dass eins gedacht hätte, sie einmal zu reinigen. Die Mädchenhände mussten sich ganz mit ihren Strickstrümpfen nahen, um auch nur einiges zu sehen, wenn in dem harten Widerpart der Stube, der immer zwischen Mutter und Schwiegermutter und zwischen Mutter und Mathilde herrschte, nicht alle Schlingen von der Nadel streichen sollten. Und in der Ecke stand ein Bett, fast bis auf die Bettbretter leer. Es lag unter ganz schwarzen Bettlaken, die nie gereinigt waren, ein Strohsack, auf dem die junge Heintke mit ihm die Nächte zubrachte, indessen die alte Mutter mit dem jüngsten Enkelkinde gegenüber in der elend zerschlitterten Bettstatt lag. Noch ein Schub und ein Schrank waren da, vergriffen wie altes Holz, das an der Luft und im Rauche schmutzig geworden, schief und hängend. Und was sonst an Kindern noch existierte, machte sich ein fliegendes Lager dort, wo es warm war, aus Kleiderlumpen und Schemeln und Stroh auf der Diele, einer alten Lehmdiele, die aussah wie der blanke, schwarze Erdboden, nur dass er nicht gerade vom Regen nass wurde, bloß vom Stürzen der Kartoffeltöpfe, und wenn man im Röhre kochte.
Aber der Mann, der junge Heintke, war diesen ganzen Winter nicht daheim. Er war im Gefängnis. So nahm die junge Frau – sie war gegen sechsunddreißig – ihre jüngsten Mädel zu sich ins Bett, und da es eben Schlafenszeit war, Mathilde ihr Töpfchen Kartoffeln für den kommenden Arbeitstag fertig gemacht und parat gestellt, war die allein daran, sich für die Nacht am Boden herzurichten, während Großmutter und Mutter mit den jüngeren sich bereits ins raschelnde, knackende Lager hingeworfen und Last und Mühsal barsch und grollend hinter sich.
Und Mathilde allein stand noch aufrecht. Die Feuer in den Öfen waren niedergebrannt, durch die Ritzen des Eisenofens glimmte es noch. Sie hatte sich die Lampe auf die Ofenbank gerückt und begann, sich langsam auszukleiden: ein junges frisches Ding, groß und kräftig für ihre Jahre, mit gesunden, starken Bewegungen, die keine Ermattung und Ermüdung verrieten, nur Spannung in Muskeln und Sehnen. Sie nahm lässig Nadeln aus dem hudeligen Haare und legte sie auf die Ofenbank – und lässig und Versonnen zog sie ihre Jacke aus, die aus ihrer Kinderzeit stammte und ihr bei der jungen Fülle offenbar viel zu eng geworden; und dann hing sie sie langsam an den Schrank und blickte sich nach den Ruhenden um. Es beschäftigte sie etwas. Sie sah sich in dem schwarzen Rauchfang um und überdachte hin und her. Aber die letzten Worte, die sie gegen die Mutter ausgespielt, waren hart gewesen und konnten die Härte der Mutter ebenso gut auch herauslocken. Deswegen schwieg sie und wagte nicht, zu neuen Worten sich aufzuraffen. Und die Mutter lag und sah sie durch die blinzelnden Lider, denn die junge Heintke war ein Weib mit allen Registern, das Fluchen im Hause ging ihr ebenso gut wie das sich Bekreuzen und Beten und Demütigung in der Kirche. Die Töchter, und besonders die, die nun frisch und jung aufgewachsen und aus sich aufkam in Groll, um dessentwillen, was jeder, wenn er ins Leben will, hoffen und erwarten soll, und was sie so gar nicht aus Mutter und Vater und Gemeindehaus finden konnte, die musste auf der Hut sein. Deswegen schwieg auch Mathilde heute, so hart sie aussah und so geschickt sie sich sonst mit unbarmherzigem Hohn einem Schlage der Mutter zu entziehen wusste, wenn er sie gleich tückisch in Auge und Nase treffen wollte. Aber die Mutter schwieg auch und tat, als schliefe sie. Im Grunde umfing sie die wohlige Lage, das Stumme und Stille, die Losgebundenheit auch von den Kinderreden und dem Scheelsehen der alten Großmutter, und sie überlegte, und der Zorn schwand, die Müdigkeit kam, die blinzelnden Augen, die noch heimlich sehen wollten, drückte der Schlaf zu, so dass Mathilde bald merkte, dass alles in sich gesunken war, wie das glimmende Feuer in Staub und Asche. So ging auch in ihrer Seele das Licht der Wünsche und nagenden Sehnsucht aus – und ihre Mienen, rund und rosig, ihr Haar so blond wie Gold im Schein der Rauchlampe, und ihre junge Gestalt, weich und knospend wie ein junger Baum, alles nahm ein stilles, starkes, gesundes Leben nur für sich an. Die Härte war gewichen. Wie ein buchener Zweig im Frühlingsdrange, so dehnte sie sich in die Lumpen und legte ihren hellen Kopf auf die harte Lehne eines umgekehrten Schemels und deckte sich mit Oberrock und Lumpen – und zog leise ein Büchel heraus, das sie, wer weiß von wem, gehandelt hatte, und suchte so einige ungestörte Lebens- und Traumblicke zu tun, ehe sie einschlief.
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