Carl Hauptmann - Mathilde

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Carl Hauptmann erzählt in seinem Debütroman aus dem Jahr 1902 das Leben einer Fabrikarbeiterin.
Hauptmanns Augenmerk liegt insbesondere auf der Genauigkeit der Milieubeschreibung und der psychologischen Verfassung seiner Protagonistin.

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Table of Contents

Erstes Buch1

Im Gemeindehaus

2

Der erste Brief nach Haus

3

Fabrikmänner

4

Wie Saleck sich nähert

5

Wie Skrupel erwachen

6

Mathildes heimliches Zögern

7

Saleck und Simoneit messen sich

8

Mathilde geht nun offen mit ihm

9

Mathildes Abschied von den Böhmischen

Zweites Buch10

Sie wohnt bei frommen Alten

11

Das Weihnachtsfest

12

Wie sie sich Mutter fühlt

13

Salecks Krankheit

14

Mathilde sieht einen aus der Heimat

15

Wie Mathilde zum zweiten Male dem aus der Heimat begegnet

16

Heimliche Unruhe

17

Salecks Nöte

18

Unteroffiziers-Ball

19

Saleck irrt umher

Drittes Buch20

Der alte Hallmann war ein Riese

21

Mathilde fährt Ernst auf Urlaub nach

22

Wie nun Mathilde heimlicher Kummer nagt

23

Mathilde ist zum zweiten Male Mutter

24

Der alte Hallmann kommt dahinter

25

Mathilde wartet auf Ernsts Brief

26

Mathilde fährt heim

27

Mathilde trifft Ernst heimlich

28

Mathilde wird nun klar

Viertes Buch29

Mathilde lernt auf seltsame Weise Dominick kennen

30

Im Zirkus

31

Dominicks Irrgänge

32

Mathildes Kind stirbt

33

Die trauernde Mathilde bei Dominick

34

Dominicks Selbstverachtung

35

Dominick beginnt, sich ganz zu verlieren

36

Dominicks Wege

37

Dominicks Ende

Fünftes Buch38

Die Heintken bringt Mathilde eine junge Schwester

39

Wie Mathilde mit der Schwester lebt

40

Die junge Schwester verwahrlost

41

Die junge Schwester kommt unter Kontrolle

42

Die alte Heintke starb

Sechstes Buch43

Mathilde träumt vom Frühling

44

Simoneit ist einer der Haupträdelsführer

45

Mathilde versöhnt sich mit Simoneit

46

Mathilde ist entschlossen, Simoneit zu heiraten

47

Mathilde ist Simoneits Frau

48

Wie Mathilde Simoneit das erste Kind geboren

49

Mathilde wappnet sich

50

Wie aus Mathilde Leid hervorsah, wie aus einer Seherin

51

Wenn nun eine am Brunnentroge steht, kennt man sie

Carl Hauptmann

Mathilde

Zeichnungen aus dem Leben einer armen Frau

Impressum

ISBN: 9783955013622

2014 andersseitig

Covergestaltung: Erhard Koch

Digitalisierung: Erhard Koch

andersseitig Verlag

Dresden

(mehr unter Impressum-Kontakt)

Erstes Buch

1

Im Gemeindehaus

»Redi ni vom Vater, Mutter! Besser, dass er überhaupt ni mehr heemkummt.« Mathilde sagte die Worte mit dem gänzlich harten Gesicht, das die Fünfzehnjährige fast niemals in ein Lachen legte, solange sie daheim war. Und daheim heißt dabei auch nichts weiter, als in einer großen Eckstube im Gemeindehaus, in der man fast immer Holz feuerte, und in der die beiden Öfen, ein alter Kachelofen und ein kleiner eiserner, mit hängenden Türen und Ritzen, die nie verschmiert wurden, im Winter oft so rauchten, dass man vor Qualm beim Eintreten keine Menschen sah, nur wie offene Feuer durch den Rauch, und Krachen und Prasseln der gestohlenen Scheite hörte, bis man dann langsam auch Insassen, die alte Heintke und ihre Schwiegertochter und ein paar kleine Gesichter mit Strickstrümpfen am Tisch, und endlich Mathilde, die frische Fünfzehnjährige, die unten in der Fabrik auf Arbeit ging, gewahr wurde, Mathilde immer mit einem harten Gesicht, jung und blond, wie sie war, mit energischen, vorwurfsvollen Lippen, barsch und ablehnend.

Die Wände der Stube waren wie die einer Räucherkammer, so schwarz und geteert, und in dem Raum stand auch schwarz und gebrechlich nur das Allergeringste, was eine Familie zur Lebensnotdurft wirklich haben muss: Ein Tisch und eine Lampe, die zum allgemeinen Stubenrauch ungehindert noch den ihrigen zugab, ohne dass eins gedacht hätte, sie einmal zu reinigen. Die Mädchenhände mussten sich ganz mit ihren Strickstrümpfen nahen, um auch nur einiges zu sehen, wenn in dem harten Widerpart der Stube, der immer zwischen Mutter und Schwiegermutter und zwischen Mutter und Mathilde herrschte, nicht alle Schlingen von der Nadel streichen sollten. Und in der Ecke stand ein Bett, fast bis auf die Bettbretter leer. Es lag unter ganz schwarzen Bettlaken, die nie gereinigt waren, ein Strohsack, auf dem die junge Heintke mit ihm die Nächte zubrachte, indessen die alte Mutter mit dem jüngsten Enkelkinde gegenüber in der elend zerschlitterten Bettstatt lag. Noch ein Schub und ein Schrank waren da, vergriffen wie altes Holz, das an der Luft und im Rauche schmutzig geworden, schief und hängend. Und was sonst an Kindern noch existierte, machte sich ein fliegendes Lager dort, wo es warm war, aus Kleiderlumpen und Schemeln und Stroh auf der Diele, einer alten Lehmdiele, die aussah wie der blanke, schwarze Erdboden, nur dass er nicht gerade vom Regen nass wurde, bloß vom Stürzen der Kartoffeltöpfe, und wenn man im Röhre kochte.

Aber der Mann, der junge Heintke, war diesen ganzen Winter nicht daheim. Er war im Gefängnis. So nahm die junge Frau – sie war gegen sechsunddreißig – ihre jüngsten Mädel zu sich ins Bett, und da es eben Schlafenszeit war, Mathilde ihr Töpfchen Kartoffeln für den kommenden Arbeitstag fertig gemacht und parat gestellt, war die allein daran, sich für die Nacht am Boden herzurichten, während Großmutter und Mutter mit den jüngeren sich bereits ins raschelnde, knackende Lager hingeworfen und Last und Mühsal barsch und grollend hinter sich.

Und Mathilde allein stand noch aufrecht. Die Feuer in den Öfen waren niedergebrannt, durch die Ritzen des Eisenofens glimmte es noch. Sie hatte sich die Lampe auf die Ofenbank gerückt und begann, sich langsam auszukleiden: ein junges frisches Ding, groß und kräftig für ihre Jahre, mit gesunden, starken Bewegungen, die keine Ermattung und Ermüdung verrieten, nur Spannung in Muskeln und Sehnen. Sie nahm lässig Nadeln aus dem hudeligen Haare und legte sie auf die Ofenbank – und lässig und Versonnen zog sie ihre Jacke aus, die aus ihrer Kinderzeit stammte und ihr bei der jungen Fülle offenbar viel zu eng geworden; und dann hing sie sie langsam an den Schrank und blickte sich nach den Ruhenden um. Es beschäftigte sie etwas. Sie sah sich in dem schwarzen Rauchfang um und überdachte hin und her. Aber die letzten Worte, die sie gegen die Mutter ausgespielt, waren hart gewesen und konnten die Härte der Mutter ebenso gut auch herauslocken. Deswegen schwieg sie und wagte nicht, zu neuen Worten sich aufzuraffen. Und die Mutter lag und sah sie durch die blinzelnden Lider, denn die junge Heintke war ein Weib mit allen Registern, das Fluchen im Hause ging ihr ebenso gut wie das sich Bekreuzen und Beten und Demütigung in der Kirche. Die Töchter, und besonders die, die nun frisch und jung aufgewachsen und aus sich aufkam in Groll, um dessentwillen, was jeder, wenn er ins Leben will, hoffen und erwarten soll, und was sie so gar nicht aus Mutter und Vater und Gemeindehaus finden konnte, die musste auf der Hut sein. Deswegen schwieg auch Mathilde heute, so hart sie aussah und so geschickt sie sich sonst mit unbarmherzigem Hohn einem Schlage der Mutter zu entziehen wusste, wenn er sie gleich tückisch in Auge und Nase treffen wollte. Aber die Mutter schwieg auch und tat, als schliefe sie. Im Grunde umfing sie die wohlige Lage, das Stumme und Stille, die Losgebundenheit auch von den Kinderreden und dem Scheelsehen der alten Großmutter, und sie überlegte, und der Zorn schwand, die Müdigkeit kam, die blinzelnden Augen, die noch heimlich sehen wollten, drückte der Schlaf zu, so dass Mathilde bald merkte, dass alles in sich gesunken war, wie das glimmende Feuer in Staub und Asche. So ging auch in ihrer Seele das Licht der Wünsche und nagenden Sehnsucht aus – und ihre Mienen, rund und rosig, ihr Haar so blond wie Gold im Schein der Rauchlampe, und ihre junge Gestalt, weich und knospend wie ein junger Baum, alles nahm ein stilles, starkes, gesundes Leben nur für sich an. Die Härte war gewichen. Wie ein buchener Zweig im Frühlingsdrange, so dehnte sie sich in die Lumpen und legte ihren hellen Kopf auf die harte Lehne eines umgekehrten Schemels und deckte sich mit Oberrock und Lumpen – und zog leise ein Büchel heraus, das sie, wer weiß von wem, gehandelt hatte, und suchte so einige ungestörte Lebens- und Traumblicke zu tun, ehe sie einschlief.

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