Ein paar persönliche Kleinigkeiten sammelte sie noch ein und warf sie in ihren schon vorbereiteten Karton, dann schnappte sie sich ihre Habseligkeiten und wandte sich zutiefst verletzt Richtung Ausgang. Ihr Blick glitt noch einmal durch den Raum. Viele Jahre war sie Mittelpunkt dieses Büros gewesen.
Ihren Mann hatte sie in jungen Jahren ermutigt, als einfacher Tischler seinen Meister zu machen und eine eigene Tischlerei zu gründen. Mit Sybilles Hilfe hatte sich Michael auf Küchen spezialisiert und war damit sehr erfolgreich geworden.
Sie hatte ihm den Rücken freigehalten, indem sie sich aufopfernd um den Haushalt und den gemeinsamen Sohn Alexander und am Abend um die Buchführung der neugegründeten Firma gekümmert hatte. So hatte sich Michael ganz der Herstellung der Möbel widmen können. Seine Slogans „Hast du Möbel von Specht im Haus, nimmt der Holzwurm Reißaus“ oder „Bei einer Küche von Specht ist der Preis nicht schlecht“ liefen mittlerweile sogar in der Radiowerbung.
Seitdem ihr Sohn erwachsen war und eigene Wege ging, hatte Sybille ganztags in der Firma gearbeitet, die Buchhaltung geleitet und sich um die täglichen Schreibarbeiten gekümmert.
In der Werkstatt arbeiteten zehn Gesellen und zwei Auszubildende, um die Aufträge fristgerecht abzuarbeiten, die die drei Kollegen aus dem Vertrieb abschlossen.
Michael hatte ein eigenes Büro und war mit der Planung und Umsetzung ausgelastet. Er war der Ansprechpartner für seine Kunden. Beim Aufbau der Küchen war er immer vor Ort, um die Qualität der ‚Specht-Küche‘ zu gewährleisten.
Als neustes Firmenmitglied war Daniela Meyer von Michael eingestellt worden, zum Leidwesen von Sybille, und war jetzt von der jungen Buhlin ihres Gatten eiskalt ins Abseits gedrängt worden.
Beim Rausgehen sah Sybille den Stapel Auftragsbestätigungen, die sie ihrer Mitarbeiterin zur Erledigung hingelegt hatte. Oben lag die Bestätigung von Phillip und Maren Wiesner, Mühltal bei Nußdorf am Inn.
Sie konnte nicht anders. Dieser Auftrag lag ihr besonders am Herzen. Sie steckte die Auftragsbestätigung in einen Umschlag, klebte eine Briefmarke drauf und legte diesen in ihren Karton. Auf dem Nachhauseweg würde sie eben noch am Postkasten vorbeifahren. Die anderen Aufträge waren ihr egal. Sollte sich doch die Neue drum kümmern und zusehen, wie das Geld reinkam.
„Ich muss lernen, loszulassen. Damit fange ich an.“
Noch einen letzten tiefen Atemzug, und sie verließ die Firma. Den Karton klemmte sich Sybille auf den Gepäckträger und radelte wieder nach Hause.
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Da stand sie nun – gedankenverloren, einsam und verlassen – in der großen Wohnung. Wie friedlich und still alles um sie herum war.
Ihre Gedanken kreisten darum, wo sie hingehen könnte. Eines stand für sie fest: Hier, in diesem Haus, wo sie alles an ihr ruhiges, schönes Leben erinnerte, wollte sie auf gar keinen Fall bleiben.
Der Anruf ihrer Freundin Gitti hatte ihr Mut gemacht. Vom Poltern des Briefträgers vor der Haustür schreckte sie zusammen und gab vorerst die weiteren Überlegungen auf. Pflichtbewusst, oder eher aus reiner Gewohnheit heraus, holte sie die Post aus dem Briefasten.
Ein Modekatalog für große Größen, Michaels Bankauszüge, diverse Rechnungen von Versicherungen eines Reisebüros und ein Brief mit geschwungener Handschrift an sie adressiert.
Reisebüro? Sybille wurde von Neugierde erfasst, wie viel ihr ach so toller Göttergatte für diese Liebesreise aus dem Fenster geworfen hatte. Mit zittrigen Händen öffnete sie den Brief. Er war ja auch an Herrn und Frau Specht adressiert, da konnte man ihr nichts vorwerfen. Und immerhin war sie noch Frau Michael Specht. Allerdings fühlte es sich gar nicht mehr so toll an, und sie wusste auch nicht, ob das nach dem, was sich ihr Mann geleistet hatte, noch so erstrebenswert war. Ob sie diesen Namen in Zukunft überhaupt noch tragen wollte, darüber musste sie sich noch klar werden.
Nun lag die Rechnung offen vor ihr. Ein Keuchen entrang sich ihrer Kehle, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.
All inclusive, 14 Tage, fünf Sterne Ferienresort Paradisus Varadero, 6.598,00 €? Sybille rang um Fassung. Dieser Scheißkerl! Für mich hat es immer nur für eine Woche Campingurlaub in Wanne-Eickel gereicht. Na, schönen Dank auch. Sybille knallte die Rechnung auf die Arbeitsplatte der Küchenzeile. Sie ging zum Kühlschrank und holte aus dem Kühlfach die Flasche Doppelkorn heraus. Direkt aus der Flasche nahm sie einen ungefähr daumenbreiten Schluck. Danach musste sie sich erst einmal schütteln. Durch die aufkommende Wärme hatte Sybille nicht mehr das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Sie nahm sich noch eine Tafel Schokolade aus ihrem ‚Geheimvorrat für alle Fälle‘, schnappte sich ihren Brief und wankte ins Wohnzimmer. Sybille ließ sich in den großen Ohrensessel fallen. Der Brief verströmte einen leichten Geruch von Lavendel. Sie wusste genau, von wem er kam. Es war unnötig, auf den Absender zu schauen. Er konnte nur von ihrer Tante Hildegard sein.
Die Schrift war etwas zittriger als sonst, aber wie immer hatte sie ihr mit vielen blumigen Worten geschrieben. Zu jedem Geburtstag und zu den Feiertagen kam ein Brief von ihr. Immer mit ein paar ‚Scheinchen‘ für Sybille.
PS: Kauf dir was Schönes! stand immer untendrunter. Natürlich bekamen auch Michael und Alexander regelmäßig Post an ihren Geburtstagen. Michael allerdings ohne Zusatz. Er mochte Tante Hilde nicht besonders. Auch für ihre Eltern hatte er zu ihren Lebzeiten nichts übrig gehabt. Nur seine Familie, besonders seine Schwester Myriam, wurde hochgejubelt. Daher waren die Besuche bei ihrer Tante weniger geworden, bis sie schließlich ganz aufgeblieben waren.
Sybille rief nach jedem Brief an, um sich zu bedanken, und auf die Frage „Wann kommt ihr denn mal?“ antwortete sie immer: „Du weißt doch, das Geschäft! Michael muss viel arbeiten, und ich muss ihn so gut wie möglich unterstützen. Sobald wir aus dem Gröbsten raus sind, kommen wir dich besuchen, liebes Tantchen.“
Sybille wischte sich eine Träne weg und griff sofort zum Telefon. Nach ein paar Mal Tuten nahm sie auch gleich ab.
„Hallo?“
„Tante Hilde?“
„Sybille! Schön, dass du anrufst. Ich bin gerade dabei, Brombeermarmelade und Gelee einzukochen. Geht’s dir gut, mein Kind?“
„Ach, Tante Hilde …“ Nun brachen alle Dämme bei Sybille. Sie erzählte ihrer Tante tränenreich und unter Schluchzen von ihrem grandiosen Geburtstag.
„Komm“, sagte sie. „Komm, mein Mädchen! Dein Zimmer hier ist immer für dich frei.“
Sybille überlegte gar nicht lange und hörte auf ihr Bauchgefühl. „Ja, ist gut. Ich komme!“
Nach diesem aufwühlenden Gespräch fühlte sich Sybille erleichtert. Sofort ging sie ins Schlafzimmer und packte einen Koffer mit den nötigsten Sachen. Am nächsten Tag wollte sie mit der Bahn zu ihrer Tante ins beschauliche Oldenburg fahren.
Nach einer schlaflosen Nacht voller schlechter Träume und der Vorfreude auf die bevorstehende Reise wachte Sybille mit Verspannungskopfschmerzen auf. Sie schleppte ihren Körper unter die Dusche, während in der Küche die Kaffeemaschine fröhlich wie eine Dampflokomotive vor sich hin schnaufte.
Nach einem kurzen Frühstück, bei dem sie gedankenversunken aus dem Fenster sah, putzte sie das Bad, saugte die Wohnung noch mal durch, wusch ihre Kaffeetasse und Besteck ab und wischte noch mal die Küche und das Bad durch. Sybille schnappte sich ihren Koffer und ihre Handtasche und machte sich auf den Weg. Beim Rausgehen kam sie am Schlüsselbrett am Eingang vorbei. Sybille kam eine Idee. Wozu sollte sie mit dem Zug fahren, wenn in der Garage die geliebte Limousine ihres holden Gatten stand? Am Freitag war er ja mit seinem Sportwagen unterwegs gewesen. Kurzerhand schnappte sich Sybille den Autoschlüssel.
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