Dabei rutschte die Schreibtischunterlage ein wenig zur Seite und gab den Blick auf zwei Flugtickets frei. Sybille verdrehte neugierig ihren Kopf, damit sie besser lesen konnte. Kuba, First-Class, Abflug 21. Oktober stand dort in schwarzen Buchstaben. Sybilles Herz machte einen Hüpfer.
21. Oktober? Das ist ja schon morgen. Ach herrje! Und ich muss noch packen. Er hat tatsächlich meinen fünfzigsten Geburtstag nicht vergessen.
Wie ein Teenager fühlte Sybille Liebe in sich aufsteigen. Sie dachte an ihren Mann Michael. Ihre erste große Liebe.
Ein gemeinsamer Urlaub mit ihrem Mann war schon lange ihr sehnlichster Wunsch. Eine Hochzeitsreise hatten sie damals nicht machen können. Ein Baby war unterwegs gewesen, und sie hatten jeden Cent für das Haus gebraucht, das Michael für seine Familie hatte bauen wollen.
Als ihr Sohn Alexander auf die Welt gekommen war, hatte das Geld sowieso gefehlt, und seit sie gemeinsam die Möbeltischlerei aufgebaut hatten, fehlte nicht nur das nötige Kleingeld gehabt, sondern auch die Zeit. Die ersten Jahre der Selbstständigkeit waren hart und beschwerlich gewesen.
Sybille hatte sich um ihren gemeinsamen Sohn gekümmert und Haus und Garten in Schuss gehalten. Abends, wenn Michael müde von seinem langen Arbeitstag nach dem Abendessen, das sie liebevoll für ihn gekocht hatte, auf dem Sofa Fußball geschaut oder sich mit seinen Freunden zum Männerabend getroffen hatte, hatte sie oft bis spät in die Nacht dagesessen und für die Firma die Buchhaltung und den ganzen Papierkram erledigt. Erst als Alexander in der sechsten Klasse gewesen war, hatte sie angefangen, halbtags im Büro der Tischlerei an zu arbeiten. Nach und nach hatten sich die Auftragsbücher gefüllt. Besonders, seit sie sich auf Sybilles Anraten auf maßgeschneiderte Küchenmöbel spezialisiert hatten. Nachmittags hatte sie das Haus geschrubbt, das tägliche Chaos beseitigt, Unkraut im Garten gezupft, den Rasen gemäht, die Wände tapeziert, Decken gestrichen und Alexanders Fahrrad repariert.
Sie hatte jeden Abend ein ordentliches Abendessen gekocht und später, vor dem Fernseher, Socken gestopft oder Hosen geflickt. An Samstagen hatte sie das Büro geputzt und die Werkstatt gefegt, um keine Reinigungskraft einstellen zu müssen.
Sybille hatte in all den Jahren immer den Rücken ihres Mannes gestärkt. Lieber zum Wohl der Familie und der Firma entbehrt, als dass sie sich etwas gegönnt hatte.
Bei der vielen stillen Hausarbeit hatte sie oftmals von fernen Ländern wie Kuba geträumt, wo sie ein Café eröffnen wollte. Dass es nur ein Traum war, war ihr wohl bewusst, aber irgendwann würde es soweit sein, dass sie wenigstens dorthin in den Urlaub fahren würde. Dafür sparte sie seit Jahren und zwackte monatlich ein bisschen vom Haushaltsgeld ab.
Jetzt, wo sie die Tickets auf dem Schreibtisch liegen sah, konnte sie es nicht fassen. Fast ein bisschen geschockt war Sybille. Hatte sie ihrem Mann versehentlich die Überraschung verdorben?
Wenn sie Michael gleich im Restaurant traf, er ihr feierlich zu ihrem fünfzigsten Geburtstag bei einem Glas Champagner gratulierte und ihr zum Dessert die Jubelbotschaft überbrachte, wollte sie überrascht tun. So nahm sie es sich vor.
Schnell schob Sybille die Tickets wieder unter die Schreibtischunterlage, als ob nichts gewesen wäre. Da kam auch schon Daniela Meyer zurückgestöckelt.
„Ach, Frau Specht! Sie sind ja immer noch hier. Wollten Sie nicht längst weg sein?“
„Schon, aber die Auftragsbestätigungen müssen noch raus. Gerade jetzt vor den Betriebsferien! Die können schließlich nicht zwei Wochen hier rumliegen.“
„Hmm.“ Daniela grinste dümmlich.
„Was ich nicht geschafft habe, habe ich auf Ihren Tisch gelegt. Bitte seien Sie so gut und machen den Rest fertig. Es ist auch nicht mehr viel. Nur noch eintüten und in die Post geben. Schaffen Sie das?“
Danielas Miene erhellte sich. „Na klar schaff ich das!“
„Nun gut. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Feierabend und ein schönes Wochenende.“
Sybille hatte sich inzwischen ihren Anorak angezogen und sich mit dem Kamm ihren schulerlangen Bob gekämmt. In dem Spiegel bemerkte sie die ersten silbernen Haare in ihrem dunklen Haar. Schnell schminkte sie ihre Lippen mit dem eigens für diesen Anlass gekauften dunkelroten Lippenstift.
„Ja, danke, und einen schönen Urlaub wünsche ich Ihnen.“
Sybille stutzte. „Ach ja, genau. Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Urlaub. Und vergessen Sie nicht, nachher alles auszumachen und abzuschließen.“
„Nein, nein, Frau Specht. Ich mache das schon. Sieht übrigens voll süß aus, Ihr Lippenstift, meine ich. Steht Ihnen gut. Sollten Sie öfters tragen.“
Wenn ich das nur glauben könnte , dachte sich Sybille und drehte sich zum Ausgang. „Danke.“
„Oh! Frau Specht?“
„Ja, Frau Meyer, was ist denn noch?“
„Ähm … könnten Sie mir noch sagen, wo ich den runden Ordner P finde? Ich kenne mich doch noch nicht überall so genau aus.“
Sybille klappte die Kinnlade runter. Ihre Hände umklammerten mit aller Kraft die Henkel ihrer Handtasche, sonst hätte sie dort reingebissen und ein bizarres Muster mit ihren Zähnen auf den Henkeln hinterlassen.
„Den was?“
„Na, den Dings … den runden Ordner P. Frau Specht, ich sollte doch den Stapel hier kopieren, tackern und lochen und dann ablegen … in diesem komischen Ordner. Ich weiß nicht, wo der ist.“
Sybille schüttelte den Kopf und drehte sich um. „Denken Sie mal nach mit Ihrem hübschen Köpfchen. Sie werden schon darauf kommen. Dafür wurden Sie doch angestellt. Oder?“
Auf dem Weg zum Fahrradstand wünschte sie allen Mitarbeitern, die ihr begegneten, einen schönen, erholsamen Urlaub. Sie sog noch einmal die Luft ein und nahm eine Nase von dem wunderbaren Geruch nach frischem Holz mit. Sybille liebte diesen Geruch. Dann stand sie auch schon draußen.
Es wurde schon dunkel. Der Wind war im Laufe des Tages stärker geworden, und Böen wehten frisch unter ihren Plisseerock.
Das ist ja mal wieder typisch! Wenn man mal etwas Besonderes vorhat oder es eilig hat, dann hat man auch noch Gegenwind , dachte sich Sybille und trat kräftig in die Pedale ihres Hollandrades.
Abgekämpft und völlig aus der Puste kam sie bei dem Lokal an.
„Aha, ein spanisches Restaurant! Da hat er sich ja richtig ins Zeug gelegt, der Gute“, murmelte sie und schloss das Rad am danebenstehenden Laternenpfahl ab, kämmte ihre vom Wind zerzausten Haare mit den Fingern einigermaßen zurecht, bevor sie ins Innere der Gaststätte trat.
Ein freundlicher Kellner kam ihr freudestrahlend entgegen. „Señora, herzlich willkommen.“
„Hallo, ich bin hier verabredet. Mit meinem Mann.“
„Aber natürlich sind Sie das. So eine schöne Frau.“
„Reserviert wurde auf den Namen Specht.“
„Si, Señora. Señor Specht ist schon da. Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?“
„O ja, gern.“ Sybille überreichte dem Kellner ihre Jacke, die er sich über den Arm legte.
„Würden Sie mir bitte folgen, dann bringe ich Sie zu Ihrem Tisch.“
Sie ging dem Kellner hinterher – einerseits mit freudiger Erwartung und andererseits mit einem kribbeligen Gefühl in der Magengrube. Leichte Nervosität stieg in ihr auf. Auf dem Weg zu ihrem Tisch strich Sybille ihre weiße Rüschenbluse glatt. Sie fühlte sich, als ginge sie zu einem Rendezvous.
Und da sah sie auch schon Michael. Den Blick in der Speisekarte versunken. Gut sah er aus. In letzter Zeit kleidete er sich mehr sportlich und modern, was ihm gut stand. Vor ein paar Monaten hatte er sich noch konservativ gekleidet. Er hatte nie großen Aufwand für sein Äußeres betrieben, sondern sich eher gehen lassen.
Karo-Hemd in leuchtenden Farben, Lederjeans. Das Basecap lag auf dem Tisch neben der Sonnenbrille und seinem Smartphone. Sybille fand, er sah zum Anknabbern aus. Besonders seitdem er regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Er erinnerte sie an den jungen Michael, in den sie sich als junges Mädchen verliebt hatte. Er will wohl Alexander in nichts nachstehen , dachte Sybille.
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